2 | Selbsthass

1.3K 170 255
                                    

2.319 Worte

»Hallo Shira«, werde ich begrüßt, als ich die Tür zu meinem Zimmer aufstoße.

»Hey Shira«, grüße ich meinen Papagei zurück, laufe zu ihrem Käfig, ein deckenhoher Stall aus Metallstangen, der die Hälfte der Rückwand meines Zimmers einnimmt, und öffne das Din A3 große Törchen. Augenblicklich hangelt Shira sich mit Schnabel und Füßen an den Gitterstangen herunter und kommt aus der Öffnung gekrochen. Lächelnd halte ich ihr meinen Arm hin, auf den sie vorsichtig klettert. Das ist unser Ritual. Wann immer ich mein Zimmer betrete, gehe ich zuerst zu ihrem Käfig und lasse sie raus. »Ich habe dich vermisst.« Sanft schmiege ich meine Nasenspitze an ihren kleinen Kopf, was sie gewähren lässt.

Wie immer laufe ich mit ihr zu meiner Schreibtischschublade und krame ein paar Sämereien aus einer Box. Freudig frisst sie das Futter, das ich ihr in meiner anderen Hand hinhalte und ruckt mit ihrem Kopf ab und zu etwas hoch und runter, gibt fröhliche Laute von sich.

»Du bist meine Gute, nicht?«, sage ich und streiche ihr mit zwei Fingern übers Köpfchen, nachdem ich die übrig gebliebenen Schalen in den Mülleimer geworfen habe. Danach bewege ich meinen Arm kurz ruckartig nach oben und der grüne Kea flattert auf meinen Kleiderschrank, den ich an allen Kanten mit einer dicken Metallleiste versehen habe. Ansonsten wären die Ecken jetzt schon komplett zernagt.

Mama hat Shira nie fliegen lassen. Ich habe nie verstanden, wieso. Vögel sind meiner Meinung nach ohnehin keine Haustiere - kein Käfig und keine Voliere könnte groß genug sein, damit sie anständig fliegen könnten - und bei Mama musste sie Tag und Nacht hinter den Metallstäben verbringen. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie Shira zurückgelassen hat. Am liebsten würde ich sie auswildern, aber das wäre ihr Tod, da sie von Geburt an nur in Gefangenschaft gelebt hat.

Deswegen biete ich ihr jeden Tag so viele Flugmöglichkeiten wie nur möglich. Immer, wenn ich von der Schule heimkomme, lasse ich den grünen Papagei aus seinem Gittergefängnis und er darf ein wenig in meinem Zimmer herumfliegen.

Diese Möglichkeit zu schaffen, war gar nicht mal so einfach, denn Keas fressen alles, wirklich alles, was sie sehen, an. Aus dem Grund sind alle Kanten meiner Möbel mit Metallleisten versehen und auf meinem Kleiderschrank liegt ebenfalls eine große Platte aus Stahl. Leider macht Shira aber auch vor Gummidichtungen nicht stop, weshalb ich stark darauf achten muss, dass sie nicht zum Fenster fliegt. Ein ums andere Mal habe ich das allerdings schon vergessen, was man nur allzu deutlich sieht.

Kopfschüttelnd streiche ich mit meinem Zeigefinger über die leicht ramponierte Dichtung und setze mich anschließend an meinen Schreibtisch, um meine Hausaufgaben zu machen.

»Gio macht Hausaufgaben«, kommt sogleich der Kommentar von meinem Schrank. Keas sind die lernfähigsten Vögel unter den Papageien und nach all den Jahren hat Shira längst begriffen, was es heißt, wenn ich mich nach der Schule an meinen Schreibtisch setze. Ich habe es ihr schließlich auch bestimmt schon sechs dutzend Mal gesagt.

Ein paar Minuten später höre ich Flügelschlagen und Shira landet auf meiner Schulter. Ein klares Zeichen dafür, dass sie beschäftigt werden möchte. Lächelnd komme ich dem Wunsch nach.

Keas sind wahnsinnig geschickt darin, Dinge zu öffnen. Mehr als einmal hat Shira sich schon an meinen Schulbüchern vergriffen, weil sie es geschafft hat, den Reißverschluss meines Rucksackes aufzuziehen. Auch der Inhalt meiner Schubladen ist vor ihr nicht sicher, weshalb ich sie leider nur fliegen lassen kann, wenn ich zu Hause bin. Und offen herumstehen darf hier schon gar nichts, weshalb mein Bücherregal ins Wohnzimmer umziehen musste.

Demletzt habe ich ein altes Paar Gummistiefel von mir, das mir längst zu klein ist, in unserer kleinen Abstellkammer gefunden, und da Keas Gummi lieben, habe ich etwas Futter hineingefüllt und den Bund oben mit Garn und einer fetten Nadel zugenäht.

More than meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt