9 | Erklärungsversuche

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2.465 Worte

Reece setzt sich einfach nur neben mich, ganz ohne ein Wort zu sagen. Ich bin kurz davor, aufzustehen und zu gehen, aber der Umstand, dass er ausnahmsweise kein dämliches ›Hey Giovanna‹ von sich gibt, hält mich davon ab. Ich will mich nicht schon wieder von ihm verscheuchen lassen.

Trotzdem rutsche ich einen Meter weiter nach links, um Abstand zwischen ihn und mich zu bringen. Er hat sich definitiv zu dicht neben mich gesetzt. Ich brauche mehr als einen Meter Luft zwischen uns beiden.

Eine kleine Weile sitzen wir einfach nur schweigend an der Bordsteinkante, beobachten die Autos und hängen unseren Gedanken nach. Ich weiß nicht, ob er zwischendurch einen Blick zu mir herüberwirft, denn ich bin darauf bedacht, ihn ja nicht anzuschauen.

Ich frage mich, was Reece um diese Uhrzeit hier macht und warum er sich neben mich setzt. War er auch nicht beim Schwimmen oder kommt er gerade von dort?

»Als ich deine Mailbox Nachricht bekommen habe, war ich schockiert.« Reece bricht so plötzlich das Schweigen, dass ich sogar leicht zusammenzucke. Soll ich reagieren? Ich entscheide, gegen all die Argumente, die es dafür gibt, ihn zu ignorieren, einen Blick zu riskieren. Langsam drehe ich meinen Kopf zu ihm und sehe, wie er auf einen Punkt auf dem Asphalt starrt.

»Ich bin nach oben in ein ruhiges Zimmer gegangen und habe mir die Nachricht angehört. Danach surrten tausend Fragen durch meinen Kopf. Hattest du gerade einen Unfall gebaut? Wegen uns? Wegen Ginger? Und tatsächlich auch, ob es dir gut ging. Das magst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mir diese Frage gestellt.« Zum ersten Mal wirft er einen kleinen Blick in meine Richtung. Vielleicht, um zu schauen, ob ich ihm zuhöre. Oder ob ich überhaupt noch neben ihm sitze. Vielleicht aber auch, um meine Reaktion auf das Gesagte festzustellen.

Ich bin ehrlich überrascht. Reece wirkt nicht, als würde er sich das Ganze ausdenken und zum ersten Mal keimt der Gedanke in mir auf, dass Wahrheit in seinen Worten stecken könnte. Trotzdem bewahre ich nach außen hin ein weitgehend neutrales Gesicht, sodass Reece schließlich fortfährt – vorgebeugt, die Unterarme auf seine Oberschenkel gestützt und sich die Hände knetend. Er wirkt unsicher, ja fast sogar nervös. Worte, die man eigentlich niemals mit Reece in Verbindung bringen würde.

»Mein zweiter Gedanke war, ob du noch irgendwo in der Nähe bist, denn du warst ja noch nicht lange weg, also bin – « Er stoppt. »Aber ich wusste nicht mal, ob du mit dem Auto hergekommen warst, also verwarf ich den Gedanken schnell wieder. Stattdessen fiel mir ein, wen du eigentlich anrufen wolltest. Sam ... uel. Ich denke, er hat dir gesagt, dass ich ihn informiert habe, sonst wüsstest du ja nicht, dass deine Nachricht bei mir gelandet ist.«

Ich nicke, ignoriere aber keinesfalls den Umstand, dass Reece beinahe ›Sammy‹ gesagt hätte. »Ja, hat er.« Wieder ein kurzer Blick in meine Richtung, gefolgt von einem zur Kenntnis nehmenden Nicken.

»Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, die Nachricht zu löschen, wei – «

»Verstehe, und dann kam dir eine bessere Idee«, falle ich ihm rüde ins Wort.

Sein Kopf schießt in meine Richtung. Er weiß sofort, was ich meine. Entschieden protestiert er. »Nein! Nein. Ich wollte sie löschen, weil sie ein Beweisstück gegen Ginger gewesen wäre, wenn du sie angezeigt hättest.«

Ich schnaube und richte meinen Blick auf die Straße. »Ihre Eltern sind Topanwälte. Was hätte ich schon bezwecken können, außer dass ich noch mehr Hass auf mich lade?«

»Ich habe sie nicht gelöscht, weil ich Ginger zeigen wollte, was sie angerichtet hat. Dass sie dieses Mal entgültig zu weit gegangen ist.«

»Wie edel von dir.« Ich kann den Sarkasmus in meiner Stimme nicht verbergen, denn damit hat er alles nur schlimmer gemacht.

More than meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt