4. Kapitel - Leann

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Ich stehe vor dem Kleiderschrank und überlege welche Kleidung angemessen ist um die Eltern des toten besten Freundes gegenüber zu treten und über den schlimmsten Tag in unserem Leben zu sprechen. Schwarz? Farbe? Was drückt aus, was ich nicht zu sagen vermag? Was ist angemessen? Jemand klopft sachte gegen meine Tür und ich muss nicht antworten, denn mein großer Bruder hatte noch nie auf ein ‚Herein' gewartet. Es ist für einen kleinen Teil in mir beruhigend zu wissen, dass sich manche Dinge nicht ändern werden. Wir haben kein sonderlich gutes Verhältnis zu einander, zu groß sind die Unterschiede zwischen uns. Er kennt viele Leute, hat viele Bekannte mit denen er unterwegs ist und hat immer einen Plan. Ich, ich hatte meine Sechs Freunde gehabt, weil sie alles waren was ich brauchte und plante nicht weiter als zum nächsten Tag. „Brauchst du Hilfe?", fragt er, aber ich sehe, nur in meiner Unterwäsche stehend, den Schrank an. Er wird ungeduldig während er auf eine Antwort wartet, ich merke es. Ich bin überrascht, wie wenig Menschen Stille aushalten können. Leann sagte immer, dass Stille wie das Schellen eines Telefons war: man musst nur lange genug warten dann hört sie auf.

Leann Smith. Einer der außergewöhnlichsten Personen die ich Kennenlernen durfte. Vermutlich wären wir nie Freunde geworden, wenn sie James nicht geliebt hätte denn ihr Leben vollkommen anders als unseres. Ich kannte sie flüchtig, wir hatten zusammen Musikunterricht. Sie spielte Cello und ich Klavier. Daher wusste ich wer sie war. Ein Mädchen gesegnet durch ihren Verstand, geplagt von Eltern die mehr von ihr erwarteten. Ich erinnere mich gut daran, wie aufgelöst sie gewesen war, weil sie nur ein B bekommen hatte, ihre Mutter aber ein A verlangte. Sie war ehrgeizig und durch das Hohe Pensum, was ihre Eltern ihr auferlegt hatten, hatte sie keine Zeit für Freundschaften. So war sie das verschrobene Mädchen mit dem keiner etwas zu tun haben wollte und Leann war einsam. Es musste schwer gewesen sein seinen Eltern nichts Recht machen zu können. Bestimmt haben sie ihre Tochter auf ihre Art und Weise geliebt, doch Leann kannte diese Liebe nicht. 

Dann traf sie auf James. Den jungen Computernerd, bekannt dafür den Direktor öfter gesehen zu haben als seine eigene Mutter, zusammen mit seinen zwei noch viel schlimmeren Freunden. Vermutlich war es genau diese Kombination aus dem lieben und den aufrührerischen James, die sie faszinierte. Vielleicht war es auch ihre Art ihren Eltern den Mittelfinger zu zeigen, dass weiß ich nicht. Aber wenn dann war es ein voller Erfolg, denn ihre Eltern drehten durch als sie davon erfuhren und es wurde nicht besser, als sie hörten wie ihre liebe Tochter auch noch mit seinen Freunden abhing. Ich weiß noch genau wie sie auf dem Parkplatz in der Schule standen, ich musste länger bleiben weil ich Nachsitzen musste, und ihre Mutter sie anschrie was sie denn denken würde. Ich war tief beeindruckt von Leann, die dort stillschweigend stand, sich die Beleidigungen und Vorwürfe anhörte ohne die Miene zu verziehen. Nichts an ihr verriet was sie fühlte. Als ihre Mutter fertig war, befahl sie in einem harschen Ton Leann solle sich in das Auto setzten, doch sie blieb stehen. Sie sagte nichts. Sie drehte sich einfach um und ließ ihre sprachlose Mutter hinter sich. Wir sahen Leann mehrere Tage nicht und ich erfuhr, dass sie abgehauen war. Wo sie war verriet sie nie, aber ab den Zeitpunkt sagten ihre Eltern nichts mehr gegen James oder uns und sie wurde in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Ich glaube nicht dass James einen schlechten Einfluss auf sie hatte. Vielmehr denke ich, dass er ihr ermöglicht hatte zu sein wer sie sein wollte. Endlich erfuhr sie, was ihre Eltern ihr schon ihr ganzes Leben hätten zeigen müssen: Bedienungsloser Rückhalt. Und unter dieser Voraussetzung blühte sie auf. Natürlich blieb sie weiterhin unsere Streberin, wie Taylor sie immer nannte, aber sie war eben unsere.

An dem Abend in der Bowlingbahn vor zwei Wochen war sie merkwürdig aufgedreht, mehr als sie es sonst war. Ihre kurzen, schwarzen Haare lagen noch mehr durcheinander als sonst und irgendwann als wir alleine waren, fragte ich sie, was los sei. „James ist der Mann den ich heiraten werde." Ich tat überrascht, natürlich, und fragte wie sie darauf käme. „Weil ich mit ihm den Rest meines Lebens verbringe und mit dem ich meine Kinder und Enkelkinder großziehen werde." Sie wusste nichts von dem Antrag den er plante und ich verriet es ihr auch nicht.

Jetzt wünschte ich mir, sie hätten es beide gewusst. Ich wusste von ihrem Traum, ihr Leben zusammen zu verbringen und ich sah ihnen dabei zu, wie dieser Traum nicht wahr werden konnte. Ich wusste von James seiner tiefen Liebe zu ihr. Wäre es ihnen leichter gewesen zu sterben, wenn sie von einander gewusst hätten? Wäre es ein Trost gewesen, in dem Moment des Todes zu wissen, dass man nicht alleine gewesen wäre? Sie beide hatten es demjenigen erzählt, dem sie am meisten vertrauten: Mir. Es war eine Ehre und Bürde zugleich, denn außer mir würde es nie jemand wissen. Niemand wird die Freude in James Augen sehen, noch von Leanns Aufregung anstecken lassen wenn sie in ihr Brautkleid schlüpft.  Ich werde nie neben ihm am Altar stehen um gemeinsam auf sie zu warten, denn er wird niemals dort stehen und sie niemals zu ihm laufen während im Hintergrund Here comes the bride läuft.

Sie saß neben James auf der Bank und wurde am Hals getroffen. Es war der dritte Schuss gewesen. Und statt sie glücklich in einem Hochzeitskleid zu sehen, wie sie mit ihrer Liebe des Lebens tanzte, sah ich wie sie verzweifelt versuchte Luft zu holen, bevor sie schlussendlich an ihrem eigenen Blut erstickte, welches unaufhörlich aus ihrem Hals floss. So schlimm ihr Tod ist, bin ich trotzdem froh, dass ihre letzten Momente im Leben mit uns waren. Menschen die sie liebten. Menschen wie James, der einen Arm um sie gelegt hatte, umgeben von den Leuten, die sie als die Familie ansah die sie nie hatte.

Und die sie nie haben wird.

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