10. Kapitel - Trauer

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Ungewohnte Lautstärke schlägt mir Entgegen, als ich an die Tür der Mayers klopfte. Man hört schwerfällige Schritte und Großtante Muriel öffnet mir. Zunächst sieht sie mich fragend an, beinahe wie einen Geist, dann zieht sie mich in eine enge Umarmung.

„Komm rein, sie werden sich freuen dich zu sehen." Da war ich weniger optimistisch, aber bevor ich etwas sagen konnte, zog sie mich in das Wohnzimmer.

Der Unterschied zu den anderen Familien ist gravierend. Es ist nicht so laut wie es immer war, wenn ich zu den Familientreffen eingeladen war und es wird schwarz getragen, aber ich werde von allen begrüßt wie ein Familienmitglied, was dazu führt, dass mein Herz ein kleines bisschen leichter trägt.

Ich werde in Umarmungen gezogen, mir wird Beileid ausgesprochen und man versichert mich, dass ich immer willkommen bleiben werde. Bis dahin wusste ich gar nicht, wie es mich belastete hatte, dieser Gedanke nicht wiederkommen zu können.

Josh's Brüder stehen auf und jeder zieht mich in eine wortlose Umarmung. Sie begleiten mich zum Sofa, holen mir etwas zu essen und etwas zu trinken. Ich habe zwar weder Hunger, noch Durst, aber ich esse dennoch. Sie sehen Josh so ähnlich, dass ich froh bin mich auf das Essen zu konzentrieren, statt sie ansehen zu müssen, denn je länger ich sie ansehe, desto größer wird der Kloß in meinem Hals. Josh's Vater scheint es mit mir ähnlich zu gehen, denn er entschuldigt sich und geh nach oben. Stumm sehe ich ihn nach, ich weiß noch wie wir zusammen Basketball gespielt haben hinter dem Haus und er uns heimlich Schokolade gab, obwohl seine Frau das nicht wollte.

Sie fragen nach der Wunde, fragen ob ich etwas bräuchte und ob sie mir helfen können. Und in mitten dieser Menschen fühle ich mich zum ersten Mal weniger einsam, weniger alleine.

Es gibt mir den Mut von meinem Gedanken, dass alle sechs nebeneinander beerdigt werden sollen zu erzählen und meine Idee wird durchweg positiv aufgenommen, was mich sehr erleichtert. Ich habe auch den Mut von den vorherigen besuchen zu erzählen und bevor ich wieder in mein Loch fallen kann, in dem ich mich mittlerweile wohlfühle, fangen sie mich auf, spannen ein Sicherheitsnetz um mich zu schützen. Diese Unterstützung fühlt sich wie Balsam auf meiner Seele an. Georg kommt die Treppe wieder runter und hält ein Stück Stoff in der Hand, was er seiner Frau zeigtt, die aus dem Garten in das Wohnzimmer tritt.

Edith Mayer sieht mich an und ich unterdrücke die Tränen, die sich mir bei ihrem Anblick in die Augen schleichen wollen. Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände, sieht mir tief in die Augen und sagt Worte, die aus ihrem Mund nicht wie eine Floskel klingen, sondern eine Erleichterung darstellen.

„Ihr ward seine Familie, natürlich wird er neben ihnen beerdigt wenn es geht. Mein Baby soll da oben bei dem Herrn nicht alleine sein. Sie sollen zusammen auf dich warten können, bis du irgendwann im hohen Alter zu ihnen triffst."

Sie schließt ihre Arme um mich und streichelt mir über den Rücken. Sie gibt mir den Moment den ich brauche um mich zu sammeln. Dann löst sie sich und ihr Mann tritt neben sie. „Hier, das sollst du haben." Und reicht mir das Kleidungsstück.

Es ist ein Trikot der Chicago Bulls mit der Nummer 23.

Josh's Trikot.

*

Dieser letzte Besuch ist der schwerste und ich traue mich nicht die Klingel zu drücken, was albern ist, denn ich habe es bis hier her geschafft und kann noch stehen. Nur wenn ich drücken würde, könnte ich nicht mehr abhauen und abhauen klingt in diesem Moment sehr, sehr gut.

Regungslos verharre ich vor dem Haus der Familie Cooper. Wie oft bin ich durch diese Tür gegangen oder über die Garage durch das Fenster wenn Taylor Hausarrest hatte und wir uns nicht sehen durften. Wie oft sind wir hier durch den Garten gelaufen oder den Baum da vorne hochgeklettert. Das alte Baumhaus stand immer noch. Da hinten an dem Stein hatte ich mir das Knie aufgeschlagen, da hinten an der Bank hatte Taylor seinen Schneidezahn ausgeschlagen. Ich verbinde so viele Erinnerungen mit diesem Ort und ich glaube deswegen habe ich auch Hemmungen zu schellen, denn dann würde eine neue dazu kommen, eine die nicht glücklich ist.

Die Entscheidung ob ich es tue oder nicht wird mir abgenommen, als die Tür geöffnet wird und Taylor's Dad vor mir steht.

Oh Gott, Taylor sah ihm so ähnlich, bestimmt hätte er in 30 Jahren genau so ausgesehen. Ich sehe die ältere Version meines besten Freundes vor mir und erst jetzt wird mir klar, dass kein gemeinsames Alt werden geben wird. Taylor wird für immer jung bleiben, während ich alt und grau sein werde. Wir werden nicht Nachbarn werden und unsere Kinder werden nicht zusammen groß werden. Es wird keine Grillabende geben und er wird nicht rüber kommen mit Bier in der Hand, weil er zu Hause kein Football sehen darf. All das wird nicht passieren und ich merke, wie wir unserer Zukunft beraubt wurden.

„Komm her Sohn.", sagt sein Vater zu mir und zieht mich in seine Arme.

Es sind keine rührenden Worte, aber es ist die Geste die mich in den Abgrund reißt. Zu Hören wie er mich seinen Sohn nennt ehrt mich, denn sein richtiger Sohn war so viel mehr für mich als nur ein Freund. Er war wie mein Bruder, seine Eltern waren meine zweiten Eltern und das macht es nicht einfacher. Nicht ein wenig, nicht ein bisschen.

Eloise Cooper sieht um Jahre gealtert aus. Ihre Haare sind wirr, ihre Augen rot unterlaufen und Taschentücher schauen aus ihrer Tasche raus. Sie steht hinter ihm, lächelt mich unter Tränen an, während mich ihr Mann drückt.

Ich löse mich und gehe auf sie zu. Ich will Wörter sagen, Wörter die ausdrücken was ich fühle, aber nichts erscheint mir angemessen und ganz plötzlich bin ich wieder dieser kleine Junge der im Kindergarten auf dem Boden sitzen muss, neben ihm der Junge, der sein bester Freund werden würde.

Ihre dünnen Arme schließen sich um meinen Nacken, als sie anfängt zu schluchzen. Ich merkte wie mein graues Hemd nass von ihren Tränen wird und ich versuche stark zu bleiben, so stark wie es Taylor an meiner Stelle gewesen wäre. Er hätte bestimmt gewusst was zu tun und was zu sagen ist. Doch ich bin nicht Taylor, also weine ich mit ihr. Weine um ihren toten Sohn, meinen Bruder, Weine um all die Dinge die wir erlebt haben und noch mehr um die, die es hätten noch sein sollen.

Ich vergrabe mein Kopf in ihren Haaren, damit ich nicht das Bild von ihm und mir beim Wandern sehe. Oder das wo wir am See liegen, er noch mit Schwimmflügeln. Oder das Bild von seinem Geburtstag letztes Jahr, wo er sein typisch ansteckendes Lachen lacht. Oder wie wir in unserem Baumhaus saßen, beide breit grinsend.

Sein Vater tritt hinter mich und legt seine Hände auf meine Schultern. Die stumme Geste gibt mir Halt in einer Zeit, wo ich jeden Halt gebrauchen kann und endlich kann ich loslassen, kann meine Tränen loslassen, kann trauern. Wir bleiben so stehen, bis die letzte Träne geflossen ist, bis das letzte Schluchzen verklingt. Es wird ruhig hier in dem Eingangsbereich und es ist in Ordnung für mich, denn es ist eine andere Stille. Wir warten nicht darauf, dass einer zusammenbricht, denn das sind wir schon längst.

Eloise tritt zurück und wischt sich die letzten Überreste der Tränen weg. Sie atmet tief durch und sieht mir in die Augen, in denen sich ihr Verlust wiederspiegelt. Ich merke, dass sie sich wegen mir zusammenreißen will und ich wünsche mir dieselbe Stärke wie diese Frau.

„Möchtest du einen Kakao?", fragt sie und ich nicke während mir die Tränen wieder in die Augen steigen.

The AnarchistsWhere stories live. Discover now