8. Kapitel - Trauer

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Ich verlasse mein Zimmer und gehe die Treppe hinunter. Irgendetwas nagt an mir und ich weiß nicht genau was es ist, aber ich glaube dieses Gefühl wird mich ein Leben lang begleiten. Mum ist in der Küche und stößt einen überraschten Laut aus, als sie mich sieht. Sehe ich wirklich so schlimm aus?

„Schatz! Ich hatte nicht mit dir gerechnet. Was möchtest du essen? Ich könnte dir Pancakes machen, die magst du doch so gerne. Oder Bacon, oder einen Obstsalat, oder.." „Ich esse Müsli.", unterbreche ich sie und ich weiß dass es gemein ist, denn sie lässt enttäuscht die Schultern sinken. Ich weiß es, weil sie für einen kurzen Moment das Gefühl hatte, mir helfen zu können, etwas gute zu tun. Und ich habe sie abgeblockt. Mal wieder. Doch sie reißt sich zusammen, setzt ein Lächeln auf und besorgt mir Milch aus dem Kühlschrank.

„Setz dich hin, ich mach es dir fertig wenn du möchtest." Ich setze mich und ich merke jetzt schon, wie mich die Kraft aufrecht zu sein, verlässt. Wie wäre es, wenn ich auch tot wäre? Könnte sie damit besser umgehen als mit meinem passiven, abwehrenden Verhalten? Sie könnte zusammen mit Taylors oder James Eltern trauern. Dann wäre sie nicht alleine, so wie jetzt. Ich weiß sie ist überfordert, alle in meiner Familie sind das. Sie haben niemanden mit dem sie darüber sprechen können, mit mir am wenigsten und es tut mir leid, dass sie das mit durchmachen müssen.

Verlustgefühl steigt in mir auf. Der Amokläufer hat mir nicht nur meine Freunde genommen, er hat auch unweigerlich etwas in meiner Familie zerbrochen, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es sich reparieren lässt. Wieder spüre ich diese Einsamkeit die mich von den anderen isoliert.

„Hier. Bist du dir sicher, dass du da heute hin möchtest? Ich kann sonst auch anrufen und Bescheid sagen." Besorgt mustert sie mich und zum ersten Mal sehe ich mir meine Mutter an.

Sie ist schon immer eine Frau gewesen, die den Motor am Laufen hielt und reparierte was es zu reparieren galt. Taylor und James behandelte sie wie ihre eigenen Söhne und ich frage mich wie sie sich fühlt. Wirklich fühlt, nicht dieses ‚Es geht mir gut weil es muss'. Sie hat Augenringe und ist nervös. Immer wieder streicht sie sich über die Arme und ich weiß, sie denkt, dass ich es nicht bemerke, aber sie sieht häufig nach mir. So als müsste sie sich vergewissern, dass ich noch da bin. Das ich nicht einer der toten bin und sie das nur träumt.

Ich weiß nicht ob ich mir nicht wünsche, dass es nur ein Traum von ihr wäre.

„Mum," ich lege den Löffel bei Seite und stehe auf. Aufgeschreckt dreht sie sich zu mir, ich habe sie seit dem Tag nicht mehr gesprochen. „Mum, wie geht es dir?"

Sie blinzelt und wischt sich die Hände an ihrer Hose ab, obwohl sie nicht nass waren. Ihre Fassade beginnt Risse zu bekommen.

„Es ist alles gut, lieb dass du fragst." Dann tue ich etwas, was ich nicht machen möchte: Ich umarme sie.

Und die Fassade bricht zusammen.

Ich halte sie während sie trauert und etwas in mir beschließt, dass ich zu jeder Familie meiner Freunde gehen sollte. Sie alle haben das Recht zu trauern und noch mehr als das haben sie meine Anteilnahme daran verdient. So wie meine Mutter, die hier mit mir in der Küche steht und um mich und meine Freunde trauert, denn irgendwie hat sie uns alle verloren.

*

Lion's Familie besteht aus seiner Mutter und seiner kleinen Schwester. Ich besuche sie als erstes, weil ich vor dem Besuch am meisten Angst habe. Ihr Sohn starb meinetwegen und ich würde es verstehen, wenn sie die Tür direkt wieder schließt, wenn sie mich sieht.

Als ich den Wagen meines Dad's abstelle und aussteige, stelle ich fest, dass ich die Gegend in der Lion lebte noch nie so leise erlebt habe. Es sind nicht einmal Polizeisirenen zu hören. Dann überquere ich die Straße zu dem Hochhaus gegenüber hin.

The AnarchistsWhere stories live. Discover now