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»Corrige praeteritum, praesens rege, discerne futurum.«

»Verbessere die Vergangenheit, beherrsche die Gegenwart, erkenne die Zukunft.«

- unbekannter Verfasser

»Und hier sehen Sie das weltberühmte Kolosseum, in der Antike auch Amphiteatrum Novum genannt«, erklärte der Touristenführer den Leuten

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»Und hier sehen Sie das weltberühmte Kolosseum, in der Antike auch Amphiteatrum Novum genannt«, erklärte der Touristenführer den Leuten.
Mein Vater und meine Mutter standen sehr weit vorne, so dass ich sie kaum noch zwischen den ganzen Leuten sehen konnte. Ich hatte Abstand zu der Reisegruppe genommen. Wenn mich etwas überhaupt nicht interessierte, dann war es Geschichte. Während meine Eltern ein ganzes Zimmer nur mit Geschichtsbücher und dazu noch Filmen gefüllt hatten, bevorzugte ich eher mein eigenes Reich – Bett, Schrank, Laptop, Handy und keine Bücher.
Noch nie hatte mich Geschichte sonderlich interessiert und das würde auch nie so sein. Doch dank meiner Eltern musste ich dieses Fach noch als Leistungsfach in der elften Klasse weiter belegen. Es war das Schlimmste, was sie jemals hätten tun können, denn ich stand nicht schlechter als 5.
Wie jedes Jahr flogen wir in eine Stadt, wo es nach Kultur nur so stank. Nie sind wir nach Mallorca oder irgendwo anders in den Urlaub geflogen, weil man dort, nach der Meinung meiner Eltern, nur herumlungerte und nichts lernen konnte.
Und nun stand ich hier, in der wohl geschichtsreichsten Stadt Italiens. Ich hob meinen Blick und betrachtete die halb zerfallenen Reste des Amphitheaters. Wenn ich einmal Kinder haben werde, werde ich sie nicht an solche Orte schleppen, schwor ich mir. Ich warf der Gruppe noch einen letzten Blick zu, dann ging ich an den anderen Leuten vorbei, hinaus vor das Kolosseum.
Es war März, die Sonne schien wohlig warm, dennoch trug ich einen dünnen Pulli und darüber eine braune Jacke. Ich wandte meinen Kopf und beobachtete die Leute, die umherliefen. Sie wirkten so friedlich und ruhig, und wie so oft überlegte ich, wer sie sein könnten und was sie den ganzen Tag so taten.
Ich befand mich in einem Land, wessen Kultur ich nicht verstand, zwischen Menschen, dessen Sprache ich nicht einmal sprach. Das machte Vieles nicht einfacher, aber wenigstens konnte ich mit ihnen auf Englisch sprechen, wobei die meisten, die meine Eltern und ich bereits getroffen hatten, auch ein wenig Deutsch konnten.
Auf Latein brauchte ich sie nicht anzusprechen. Eine ausgestorbene Sprache, in dem Sinne, dass sie nirgends mehr im mündlichen Gebrauch war – bis auf bei den Ärzten, Deutschlehrern und wenigen anderen, die einen mit einigen lateinischen Wörtern bewarfen, so dass man es erst recht nicht verstand. Ich konnte ein wenig Latein, was wieder einmal daran lag, dass meine Eltern mich regelrecht gezwungen hatten, diese Sprache zu wählen.
In dem letzten Jahr hatten wir einige Grundvokabeln kennengelernt und das ganze Drumherum, wie das nun mal so bei einer Sprache üblich war. Die Lehrer setzten ihre Ansprüche hoch, was sich zu meinem Nachteil erwies, denn auch darin war ich schlecht. Die einzigen Fächer, die mir lagen, waren Kunst, Englisch und Biologie – eine eigenartige Kombi, aber immerhin etwas.
Nun. Meine Eltern verstanden sich nicht unbedingt mit Skizzen und Portraits, genauso wenig wie ich mich mit ihren Büchern und ihrer Geschichte. Wenn man Eines sagen konnte, dann war es, dass ich nicht in diese Familie hineinpasste.
Ich sichtete auf der anderen Seite einen Eiswagen und da ich zufälligerweise ein wenig Kleingeld bei mir trug und ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, als herumzustehen, lief ich herüber.
Der schwarzhaarige ältere Verkäufer mit dem runden Gesicht lächelte mich freundlich an, während er ein leises »Ciao« von sich ließ.
Ich nickte nur. Mein Blick wanderte über das berühmte Gelato, welches man mit Sicherheit für weniger als einen Euro in Deutschland erhalten konnte.
»Strawberry, please«, sagte ich und reichte dem Mann zwei Euro.
»Fragola. Sì?«
Ich nickte zustimmend. »Sì, fragola.«
Der Verkäufer nahm seinen komischen Eislöffel, kratzte damit eine große Kugel Erdbeereis aus der Box und klatschte sie dann auf eine Waffel.
»Danke«, sagte ich und nahm das Eis entgegen.
»Grazie«, gab der Mann nur zurück und ich wandte mich zum Gehen.
In diesem Moment stieß jemand gegen mich und vor Schreck fiel mir mein Eis aus der Hand.
»Verdammt«, fluchte ich und sah auf.
Eine alte Frau war gegen mich gestoßen und rannte nun hastig, ohne sich umzudrehen, davon. Mein Blick wanderte zu Boden, wo mein Eis lag. Daneben lag eine Taschenuhr, die die Frau augenscheinlich verloren haben musste.
»Hey, sie!«, rief ich und hob den Kopf. Ich stutzte, als ich bemerkte, dass die alte Dame verschwunden war.
»Das ist ja wieder so typisch«, murmelte ich, während ich das Schmuckstück aufsammelte.
»Elizabeth Victoria Meyer, komm sofort her!«, hörte ich da meine Mutter schreien.
Ja, das war mein Name. In vollen Zügen. Meine Mutter kam aus England, mein Vater war Deutscher, und beide teilten ein Hobby – Geschichte. Das konnte man auch ziemlich genau an meinem Namen erkennen. Elizabeth, Victoria – zwei bedeutende Königinnen in der Geschichte Englands. Und nein, mein Nachname war nicht englisch. Diesen hatte ich nämlich ich von meinem Vater übernommen. Welch ein Segen – nicht. Jetzt mal ehrlich, wer gab schon freiwillig den Nachnamen »Johnson« auf? Meine Mutter musste betrunken gewesen sein, als sie meinen Vater geheiratet hatte. Das war doch wirklich offensichtlich.
Ich seufzte schwer, warf noch einen letzten Blick auf mein Eis und lief dann auf meine Eltern zu, die vor dem Kolosseum auf mich warteten. Langsam ließ ich Taschenuhr in meine Jackentasche gleiten. Würden meine Eltern sie sehen, würden sie wieder ein Wesen darum machen, dass ich sie nicht mitnehmen dürfte, da sie nicht mir gehörte, oder sie würden sie konfiszieren. Irgendein Grund fiel ihnen immer ein.
»Wieso bist du hier draußen?«, verlangte mein Vater sauer zu wissen.
»Frische Luft«, gab ich nur zurück. »Können wir nun zum Hotel?«
»Nein.« Meine Mutter funkelte mich erzürnt hatte, die Hände in die Hüfte gestemmt und die Augen zu Schlitzen geformt.
»Wir wollen noch zum Theater des Pompeius«, meinte mein Vater ernst.
»Ihr wollt. Ich nicht.«
»Eli«, sagte mein Vater warnend.
Genervt seufzte ich und verdrehte die Augen, und glücklicherweise hatten dies meine Eltern nicht gesehen, da sie bereits losgelaufen waren. Mit den Händen in den Hosentaschen folgte ich ihnen, langsam und lustlos.
Meine Eltern schleppten mich gefühlt durch ganz Rom. Als ich endlich die Ruinen des Theaters sah, atmete ich erleichtert auf. Begeistert liefen meine Eltern schneller voran, während ich meinen Gang verlangsamte.
»Eliza!«, rief mein Vater sauer, als der die Karten kaufte.
Ich joggte zu ihm, nahm meine an mich und ließ die beiden wieder voran laufen. Die beiden waren bereits nach kurzer Zeit aus meinem Sichtfeld verschwunden und ich schlenderte lustlos umher. Überall standen Absperrungen. Gras hatte die wahrscheinlich damals freien Flächen überzogen, und hier und dort lagen einzelne Steine herum. Ich erblickte eine Tafel, an welcher einige Menschen standen. Ich lief dorthin, einfach so, da meine Füße irgendwie das Bedürfnis hatten.
Ich seufzte und griff in meine Jackentasche. Meine Finger berührten das kalte Metall der Uhr und ich umschloss das Schmuckstück und holte es hervor. Erst jetzt sah ich es mir genauer an. Es war bronzefarben. Die Krone befand sich genau über dem zwölften Ziffernblatt. Kein Sekundenzeiger war vorhanden, dafür eine kleine Anzeige für das Datum – nur Tag und Monat. Das Eigenartige war jedoch, dass die einzigen beiden Zeiger auf zwölf und das Datum auf 0/0 gestellt waren.
Ich blickte mich kurz um. Immer mehr Leute betraten das Theater, jedoch ließ ich mich davon nicht beirren und ergriff mein Handy aus meiner Tasche. 11.16 Uhr stand auf dem Display. Ich stellte den 15. März als Datum ein, denn genau dieser war heute, und drehte die Krone, so dass die Zeiger auf 11.16 Uhr standen.
Ein eigenartiges Gefühl kam in mir auf. Meine Finger begannen zu kribbeln und die Taschenuhr in meinen Händen leuchtete auf. Das Strahlen wurde heller, so dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Die Leute schenkten mir keine Beachtung, als würde nur ich diese Übernatürlichkeit sehen. Das Leuchten war nun so hell, als würde ich mitten in einem Scheinwerfer stehen.
Ich schloss die Augen ganz, und in diesem Moment spürte ich den Boden unter meinen Füßen verschwinden. Ein Gefühl, als müsste ich mich gleich übergeben, erfüllte meinen Magen. Meine Lunge wollte zerbersten, tat es jedoch nicht. Tränen erfüllten meine Augen, doch öffnete ich sie nicht. Es schien, als würde jemand etwas daran setzen, dass sie geschlossen blieben.
In dem Moment, als ich den harten Boden unter meinen Füßen spürte, knickten meine Beine ein. Keuchend lag ich dort, die Hände auf einen kalten Untergrund gestützt, in der rechten Hand immer noch die Taschenuhr haltend.
Ich wagte es nicht, aufzusehen. Mein Kopf brummte nur, ein Druck lag auf meinen Ohren. Nun sah ich nur nichts, sondern hörte auch nichts. Diese Hilflosigkeit machte mich beinahe wahnsinnig, und so entschied ich mich doch allmählich meine Augen zu öffnen.

Die Taschenuhr - Ave Caesar! [Band 1]Where stories live. Discover now