Willkommen und Abschied

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Mittlerweile ist es Abend. Seit einigen Stunden sitze ich bereits an Ljoschas Bett und starre den alten Mann einfach nur an. Das Fieber ist noch weiter gestiegen, mittlerweile ist er in einen unruhigen Schlaf verfallen, wälzt sich ständig hin und her und murmelt wirres Zeug. Skadi liegt zu meinen Füßen, ab und zu beuge ich mich hinab, um sie am Kopf zu kraulen.

Ich fühle mich nur noch unendlich müde und leer. Die Erkenntnis, dass mein Leben sich plötzlich um 180 Grad gewendet hat, kann ich noch immer nicht an mich heranlassen. Zwar muss ich bekennen, dass das Ganze hier nicht nur schlechte Seiten hat. Seltsamerweise freue ich mich wirklich darüber, endlich dieses Drecksloch von Außenposten verlassen zu können. Schon komisch, ich habe bis jetzt nie gemerkt, dass ich eigentlich wegwollte. Nur stellt sich nun die Frage, wohin ich denn will – zum KGB definitiv immer noch nicht.

Am liebsten würde ich Ljoscha wachrütteln, meine gesamte Frustration an ihm auslassen und ihn anschreien, wie er es wagen konnte, Breschnew all das von mir zu erzählen. Es ist dumm, das sollte nicht meine erste Frage sein und das weiß ich. Ich sollte mich eher fragen, woher er Breschnew überhaupt kennt und warum sich dieser so für mich interessiert hat. Aber für mein Herz ist das nebensächlich. Ich will nur wissen, ob er, die einzige Vaterfigur, die ich je kannte, mich wirklich an so einen wie diesen machthungrigen Aasgeier verraten hat. Denn so fühlt sich das an – wie ein Verrat. Dabei ist auch dieser Gedanke so lächerlich, dass ich nur froh sein kann, dass Ljoscha nicht bei Bewusstsein ist, sodass ich ihn wohl niemals mit all diesen Anschuldigungen bombardieren werde.

Das erste Gespräch mit meinem neuen Führungsoffizier lief so furchtbar, wie man sich ein erstes Gespräch mit seinem neuen Vorgesetzten nur vorstellen kann. Sein Name ist Dimitrij Fjodorowitsch Orlov, er ist der Soldat, der mich zu Leonidovs Hütte gebracht hat. Er ist wohl bereits seit einigen Jahren beim KGB und Breschnews Vertrauensmann unter den jungen Geheimdienstoffizieren. Er hat mich zurück zu meiner Hütte begleitet und dabei in einer distanzierten, technischen Art darüber gesprochen, was mich in den nächsten Tagen erwartet. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und einen meiner dämlichen Kommentare fallen gelassen: Mussten Sie diesen Zirkus auch mitmachen, als Sie angefangen haben, Dima? Oder bekomme ich eine Sonderbehandlung?

Daraufhin wurden seine Augen so hart und kalt wie Stahl. Seine Antwort war unmissverständlich: Für Sie Dimitrij Fjodorowitsch, Jelizaveta Alekseevna. Dass das klar ist: Ich bin Ihr Vorgesetzter und ich erwarte Respekt und Hingabe für Ihre Arbeit, verstanden? Nachdem ich diesem stumpfsinnigen, militärischen Drill vor fünf Jahren entkommen bin, darf ich mir das jetzt also wieder bieten lassen. Ach ja, das Schicksal besitzt einen wirklich kranken Sinn für Humor.

Statt hier noch länger untätig herumzusitzen, könnte ich auch einfach packen. Zwar ist es nicht allzu viel, doch da sind ja noch Dimas und Ljoschas Sachen und die von Skadi... Außerdem muss ich mir überlegen, was ich dem Jungen überhaupt erzählen soll. Wie war dein Tag? Hattest du Spaß mit deinen Freunden? Ach, übrigens, du verlässt sie morgen bei Morgengrauen und beginnst ein neues Leben. Müde fahre ich mir übers Gesicht und erhebe mich mit einem leisen Seufzer. Zwar wollte ich schon immer ein besseres Leben für Dima, aber was ich ihm sage, um ihm dieses Leben auch schmackhaft zu machen – das habe ich mir nie überlegt.

Während ich langsam den kleinen Raum verlasse, begleitet mich nur das Tappen von Skadis Pfoten auf dem Holzboden. Mit einem matten Lächeln auf den Lippen kraule ich ihr den Kopf, bevor ich anfange, die beiden alten Reisetaschen zu suchen. „Tut mir leid, dass du deine Heimat jetzt auch verlassen musst, mein Mädchen", murmle ich schuldbewusst.

Als ob sie mir mitteilen wollte, dass das schon in Ordnung sei, leckt sie mir über die Hand und schmiegt sich anschließend an mich, während ich vor dem Schrank kauere und auf dem Boden nach den beiden Reisetaschen suche. Ich beginne mit Dimas, Ljoschas und Skadis Sachen, nach einer Weile bin ich fertig. Die größere, schwarze Ledertasche, deren Oberfläche durch die Risse und Schlieren eine seltsame Ähnlichkeit zu dem alten Mann aufweist, ist knallrappelvoll. Um meine Sachen zu packen, brauche ich gerade mal ein paar Minuten. Es sind nur ein paar wenige Kleidungsstücke, das Jagdmesser und insgesamt fünf Bücher, die bereits allesamt so zerlesen sind, dass ich nicht weiß, ob sie die Reise überleben.

Strelok - Die SchützinWhere stories live. Discover now