Casus belli

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Regungslos verharre ich am Fenster, stiere konzentriert durch das Nachtsichtgerät und warte auf Dimitrijs Zeichen. Jegorow – ein älterer, glatzköpfiger Mann, dessen Bauch sich deutlich unter der blitzblanken, mit den verschiedensten Orden gespickten Uniform wölbt – lümmelt in seinem großen Bürosessel, den Telefonhörer in der einen und eine Pfeife in der anderen Hand. Für einen Milizchef wirken seine Gesichtszüge viel zu sanft, viel zu gutmütig. Würde man ihm die Uniform ausziehen, wäre er kaum mehr als ein liebes Großväterchen, wie man sie aus Filmen und Büchern kennt.

Das macht den Auftrag nicht unbedingt einfacher. Die Kopfhörer, die an ein kleines, eigenartiges Kästchen – von Dimitrij als Funkmeldeempfänger bezeichnet – angeschlossen sind, allerdings auch nicht. Es ist ein wirklich eigenartiges Gefühl, sowas auf dem Kopf zu tragen – zumindest, wenn man das wie ich noch nie zuvor getan hat. Ich kann das Gespräch zwischen Dimitrij und Jegorows Nachfolger, Fomin, halbwegs durch das Rauschen hindurch mitverfolgen; sie unterhalten sich über Triviales, hauptsächlich private Themen. Fomins Familie. Seine Vorliebe fürs Angeln.

Doch dann ist es soweit. „Wollen Sie auch eine Zigarette, Jurij Denisowitsch?" Das ist das Zeichen. Sofort schießt Adrenalin durch meine Adern, mein Puls beschleunigt sich, dröhnt regelrecht in meinen Ohren. Mein Mund fühlt sich seltsam trocken an. Gleichzeitig beginnen meine Hände zu zittern. Ich schließe die Augen, sauge die Luft durch die Nase ein, zähle bis drei und stoße sie anschließend mit einem Mal durch den Mund wieder aus.

Für die Jagd braucht man Ruhe. Absolute Ruhe. Ljoschas Worte geistern in meinem Kopf herum. Auf einmal habe ich das Gefühl, als läge seine schwere, beschwichtigende Hand auf meiner Schulter. Es ist wie beim ersten Mal, damals, als ich 16 war und er mir an diesem bestimmten Morgen die alte Mosin in die Hand drückte. Du musst lernen, dich selbst zu versorgen, Mädchen. Eigentlich konnte ich bereits schießen, doch mir war es vorgekommen, als hätte ich alles, was ich in den vier Jahren vor meinem Treffen mit Ljoscha gelernt hatte, auf einen Schlag vergessen.

An dem Morgen war ich ein zitterndes, nervöses Wrack, das mit tränenüberströmtem Gesicht im Dreck herumkroch und kaum in der Lage war, den Abzug zu betätigen, aus Angst, dass ich danebenschießen könnte und mich der alte Mann dafür bestrafen würde – so wie ich es gewohnt war. Jetzt, in diesem Augenblick fühle ich mich ähnlich hilflos wie damals. Ich atme nochmal durch. Keine Emotionen bei der Jagd – das war Ljoschas erste Lektion. Also konzentriere ich mich auf das Strichbild des Absehens, um mich von dieser unsinnigen Nervosität abzulenken.

Konzentrier dich auf deine Atmung. Denk nur an die einzelnen Schritte.

„Einatmen, anvisieren, ausatmen, Schuss", murmle ich vor mich hin. Schlagartig verengt sich mein Blickfeld zu einem Tunnel. Die Nervosität fällt von mir ab, in meinem Kopf breitet sich wieder diese Leere aus, die mir nach all den Wochen einerseits so befremdlich vorkommt und die ich andererseits willkommen heiße wie einen alten Freund, den man schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Während meiner Ausbildung – oder zumindest dem Teil, den ich durchlaufen habe – mussten wir auf Puppen schießen. Seit einigen Minuten schon hat sich Jegorow kaum bewegt, sodass es ein Leichtes ist, sich vorzustellen, er wäre auch nur eine Puppe, auf die ich zur Übung schießen muss.

Begleitet von einem altvertrauten, mechanischen Klicken entsichere ich das Gewehr. Plötzlich zerreißt eine schrille Alarmglocke die nächtliche Nowosibirsker Stille, doch der eigentlich ohrenbetäubende Lärm dringt nur wie durch Watte zu mir. Durch das Zielfernrohr erkenne ich, wie Jegorow erschrocken hochfährt, die Stirn in tiefen Falten, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrt er zur Salzsäule – unwillkürlich muss ich mich fragen, woran er wohl als Letztes denken wird. Eine absolut lächerliche Frage. Als ob die bewussten und unbewussten Gedanken, die uns im Diesseits durch den Kopf jagen, auf der anderen Seite noch irgendeine Rolle spielen.

Strelok - Die SchützinWhere stories live. Discover now