Actio et reactio

110 9 0
                                    

Mittlerweile ist es Abend, Aurora und ich sind wieder zurück im Hochsicherheitstrakt alias Akademie. Meine Visite bei Ljoscha war von kurzer Dauer – es geht ihm so schlecht, dass man mich heute noch nicht mal zu ihm gelassen hat. Offen gestanden fange ich langsam an zu bezweifeln, dass er tatsächlich nur eine Lungenentzündung hat. Und auch das Treffen mit Dima ist nicht viel besser verlaufen; er wirkte abwesend, als würde ihn etwas wurmen. Womöglich projiziere ich aber auch einfach nur mein eigenes Verhalten auf ihn. Denn auch ich war in Anbetracht der Umstände nicht sonderlich gesprächig.

Ich habe den Ausgang genutzt, um mir ein paar Bücher zu besorgen. Während ich es mir also mit Schuld und Sühne – unheimlich passend angesichts der heutigen Ereignisse – gemütlich gemacht habe, hockt Aurora im Schneidersitz auf ihrem Bett, auf ihrem Schoß Lermontows Roman und Ninas Tagebuch. Bewaffnet mit einem Bleistift stiert sie konzentriert auf die beiden Bücher, auf ihrer hohen Stirn haben sich tiefe Falten gebildet, ihre für gewöhnlich so riesigen Augen sind zu kleinen Schlitzen verengt. Die meiste Zeit über verharrt sie reglos wie eine Statue in dieser Position – die große, sowjetische Denkerin würde sie ein Bildhauer wohl taufen. Von Zeit zu Zeit löst sie sich jedoch, um zwischen den Seiten hin und her zu blättern, etwas in das Notizbuch zu kritzeln oder um alles wieder voller Zorn durchzustreichen und ein paar wütende Flüche vor sich hinzumurmeln.

Dadurch fällt ihr nicht auf, dass ich den Blick immer wieder zu meinem Wecker schweifen lasse. Bald schon ist es 18:30 Uhr, Dimitrij Fjodorowitsch erwartet mich beim Gewächshaus. Allerdings würde ich das Treffen am liebsten sausen lassen. Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich förmlich, wie ein winziges Fischerboot in einem Sturm auf hoher See reißen die Wellen sie von einem Ufer zum anderen, ohne dass ich auch nur einen meiner eigenen Einfälle zu fassen kriegen könnte. Am drängendsten ist wohl die Frage, ob ich Dimitrij von der Sache mit Nina erzählen soll oder nicht.

Er ist mein Führungsoffizier und er hat mir den Befehl erteilt, Aurora zu überwachen. Mehr noch, ich soll am Ende entscheiden, ob sie vertrauenswürdig ist. Vermutlich sollte ich ihm die Sache also melden. Nervös huscht mein Blick zu dem Mädchen rüber – und sofort zieht sich alles in mir zusammen. Obwohl es keinen einzigen logischen Grund dafür gibt, weshalb ich ihm sowas verheimlichen sollte, will ich es ihm schlicht und ergreifend nicht erzählen. Es würde Aurora in Schwierigkeiten bringen.

Aber eigentlich schulde ich ihr rein gar nichts, warum sollte es mich also interessieren, ob die Versuche meiner Mitbewohnerin, ihre Freundin zu finden, die ganz offensichtlich Dreck am Stecken hat, sie in Schwierigkeiten bringen könnten? Wohingegen die Schwierigkeiten, in die Dimitrij Fjodorowitsch mich bringen kann, wenn er rauskriegt, dass ich ihm so etwas verheimliche, durchaus ernstzunehmender wären.

Dennoch, ich kann es nicht. Vielleicht will ich es auch nicht. Sobald Aurora auch diese Nachricht geknackt hat, wird sie mich wahrscheinlich wieder bitten mitzukommen – denn wer weiß, wer nach dem flintenschwingenden Ladenbesitzer noch da draußen herumlungert? Nach der heutigen Erfahrung wäre es schon reichlich dumm, wenn sie allein gehen würde. Und wider jede Vernunft weiß ich jetzt schon, dass ich erneut mitkommen werde. Weil ich jetzt erst recht wissen will, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat. Es ist doch wirklich zum Verzweifeln mit mir.

Die Uhr schlägt halb sieben, ich muss los. „Ich geh runter", seufze ich, klappe das Buch zu und schwinge mich aus dem Bett. Von Aurora kommt nur ein geistesabwesendes ‚Hm', vermutlich hätte sie meine Abwesenheit noch nicht mal bemerkt, wenn ich einfach wortlos gegangen wäre. Schnell streife ich mir Mantel und Stiefel über, ehe ich das Zimmer verlasse und mich inmitten des Menschenstroms in Richtung Kantine aus dem Gebäude schleiche. Noch ist es nicht ganz dunkel draußen, also sehe ich mich mehrmals um, um sicherzugehen, dass mich auch keiner auf meinem Weg zum Gewächshaus beobachtet oder gar verfolgt – zum Beispiel so eine wie Sofia. Aber ich habe Glück und schaffe es unentdeckt bis zum Treffpunkt. Wenigstens ist diese Mission geglückt.

Strelok - Die SchützinWhere stories live. Discover now