Die Liste

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Glaubst du wirklich, du bist noch für was anderes gut?

Ein lautes, hämisches Lachen hallt in meinen Ohren wider – ein Lachen, das mir nur allzu vertraut ist. Ich erkenne das vernarbte, grobschlächtige Gesicht mit dem mörderischen Grinsen und den stechenden Augen auf den ersten Blick. Und so wie immer beginnt mein ganzer Körper bei seiner Erscheinung zu zittern wie ein hilfloses Blättchen im Wind.

In mir zieht sich alles zusammen, das schrille Kreischen eines verängstigten Kindes erfüllt meinen Geist. Alles in mir will die Flucht ergreifen, aber ich bin wie paralysiert. Erst als mir der scharfe, alkoholische Gestank seines Atems entgegenschlägt, löse ich mich aus meiner Starre. Allerdings auch nur, um einige Schritte nach hinten zu stolpern und das Gleichgewicht zu verlieren. Beim Aufprall fühlt es sich so an, als würden meine Knochen bersten; als wäre ich aus enormer Höhe gesprungen und mein Körper infolgedessen wie eine Porzellanpuppe auf dem Boden zerschellt.

Schwarze Gestalten, kaum mehr als dunkle Nebelschwaden, wanken auf mich zu, strecken ihre Arme nach mir aus – und inmitten dieser Wesen das Narbengesicht. Auf einmal bildet sich ein scharlachroter Fleck auf seiner Brust. Genau dort, wo sich sein Herz befindet; falls er jemals eins hatte. Erst ist es kaum mehr als ein kleiner Punkt, aber schon bald ist die Vorderseite des einst strahlend weißen Hemdes blutgetränkt. Doch das tut seinem hässlichen Grinsen keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, es scheint noch breiter, noch gehässiger zu werden, falls das überhaupt möglich ist.

Wir warten auf dich, Elisabeth.

Ich weiß...

Schweißgebadet fahre ich hoch und setze mich kerzengerade auf. Mit weit aufgerissenen Augen reiße ich den Kopf in alle Richtungen auf der Suche nach ihm. Aber er ist verschwunden – was meine Sorge dennoch nicht abklingen lässt. Wo zum Teufel bin ich hier? Ich kenne dieses verdammte Zimmer nicht! Und warum liege ich in einem fremden Bett?

Das Schlimmste befürchtend, zerre ich die Decke von mir runter und schwinge die Beine aus dem großen Doppelbett. Es ist ein Wunder, dass ich in meiner blinden Panik nicht wie ein Stein aus dem Bett falle und damit die halbe Nachbarschaft aufwecke. Eigentlich will ich gerade zur Tür rasen und sie wie ein japanischer Kamikazeflieger rammen, als mein Verstand endlich erwacht und mich innehalten lässt. Das war bloß mal wieder einer meiner Alpträume.

Bevor ich mir den Kopf darüber zerbrechen kann, nehme ich plötzlich eine leise Stimme wahr. Dimitrij. Stutzend schleiche ich zur Tür und presse ein Ohr gegen das dünne Holz. Unterhält er sich da am Telefon?

„Hm, selbstverständlich... Ja, ich bringe sie mit", dringt seine Stimme zu mir. Verwundert werfe ich nochmal einen Blick hinter mich – durch das Fenster dringt zwar fahles Mondlicht in das Zimmer, doch ansonsten ist es draußen noch immer stockdüster. Mit wem telefoniert er denn um so eine Zeit noch? Und was will er wohin mitbringen? Meint er etwa die Liste?

Ich glaube, ein leises Seufzen zu vernehmen, ehe sich auf einmal Schritte dem Zimmer nähern. Ohne weitere Umschweife hechte ich zurück ins Bett, drücke das Gesicht ins Kissen und schließe die Augen, vorsorglich schon mal darum bemüht, eine möglichst ruhige Atmung vorzutäuschen, als ob ich noch schlafen würde. Selbstverständlich erweist sich das als völlig unnötig; einige Sekunden später wird eine andere Tür draußen auf dem Korridor geschlossen.

Erneut hüpfe ich aus dem Bett, um weiter lauschen zu können. Nun erinnere ich mich auch wieder daran, was passiert ist. Dimitrij und ich saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und haben uns durch die Dokumente gewühlt, die er aus Jegorows Tresor entwendet hat. Ich muss wohl eingeschlafen sein, obwohl ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, so müde gewesen zu sein, dass mir die Augen zugefallen wären. Hat er mich dann wirklich in sein Bett gelegt? Moment mal...

Strelok - Die SchützinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt