Teil 1 - Der Anfang allen Übels

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Sofie

So leise ich kann, schleiche ich durch die Wohnung. Aus dem Wohnzimmer höre ich Stimmen. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der lauscht – und auch kein Typ –, aber als ich in meinem Bett lag und nicht schlafen konnte, da klangen diese leicht gedämpften Stimmen durch die Wand. Ich konnte einfach nicht widerstehen.

Meine Mutter redet mit dem Bruder meines Vaters. Er war heute Mittag ohne Ankündigung vor unserer Tür erschienen und hatte gesagt, dass er etwas Wichtiges mit meiner Mutter besprechen müsse. Warum er dafür aus Deutschland angereist ist, anstatt einfach nur anzurufen, weiß ich nicht. Immerhin ist es ja dann doch keine kurze Strecke von Bayern nach Paris. Aber dem will ich ja jetzt auf den Grund gehen.

Der Holzboden im Flur knarzt leise unter meinen Füßen und ich atme erleichtert die angehaltene Luft aus, als ich die Stelle überwunden habe. Jetzt ist es nicht mehr weit! Die Stimmen werden immer lauter und sind bereits gut zu hören. Die Tür zum Wohnzimmer ist zu meinem Glück nur angelehnt.

„... geht doch nicht!", höre ich meine Mutter sagen.

„Das mit der Schule würde ich regeln. Ich brauche nur dein Einverständnis."

„Aber", jetzt klingt sie, als würde sie Tränen unterdrücken, „ich kann meine Tochter doch nicht einfach wegschicken!"

Die reden über mich! Wie wegschicken? Mich? Anscheinend schon.

Da fährt Frank, mein Onkel, auch schon fort: „Du hast doch noch Thomas."

„Ja, schon. Aber der will bald ausziehen und Sofie sieht ihrem Vater so ähnlich. Du weißt, dass ich ihn immer noch vermisse, auch wenn es schon fünf Jahre her ist. Ich kann sie einfach nicht wegschicken!"

Ich muss schlucken. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Mein Bruder Thomas ist 19 und will wirklich bald ausziehen. Zurzeit ist er bei meiner Großtante mütterlicherseits und hilft ihr im Haushalt. Mittwoch kommt er wieder.

„Ist ja gut. Sie würde ja zu mir kommen." Mein Onkel ist Internatsleiter in der Nähe von Füssen. „Du weißt, jetzt da Helga im Sterben liegt, wird alles auf Sofie fallen", meint Frank.

Helga ist die Mutter meines Vaters. Mein Vater war Deutscher, ebenso wie Helga und Frank. Meine Mutter ist Französin, geboren und aufgewachsen in Paris. Thomas und ich wurden zweisprachig – also Deutsch-Französisch – erzogen. Allerdings kann ich auch fließend Englisch und ein wenig eingerostetes Italienisch sprechen. In England lebt meine Tante, Maggie, und in Italien meine Großtante, Thea. Bei beiden verbringen mein Bruder und ich seit unserer Kindheit immer wieder die Ferien. Um in Deutsch nicht aus der Übung zu kommen, kaufe ich mir immer wieder Bücher in der Muttersprache meines Vaters. Auch wenn sie dann meist ungelesen irgendwo verstauben, bis meine Mutter sie schließlich verschenkt. Mein Bruder ist der einzige Grund, aus dem ich überhaupt noch Deutsch spreche. Es hat sich einfach bei uns eingebürgert, dass wir nicht auf Französisch reden. Als Kinder war es immer eine Art Geheimsprache für uns. Ob in den Straßen von Paris, einem Museum in London oder am Strand von Sizilien, Deutsch haben die wenigsten verstanden. Irgendwann war es einfach selbstverständlich, dass wir uns nicht auf Französisch unterhielten. Auch wenn unsere Mutter das vermutlich lieber gesehen hätte.

Unsere Eltern haben sich vor gut zwanzig Jahren in Paris kennengelernt. Damals hatte meine Mutter ihren Geldbeutel bei einem Kinobesuch mit Freunden verloren. Mein Vater fand ihn und rief bei der Adresse, die er zwischen ihren Papieren gefunden hatte, an. Es führte zu einem Treffen in einem gemütlichen Café nahe der Seine. Als kleines Dankeschön hatte sie ihn dann noch auf einen Kaffee eingeladen. Die Details der Geschichte variieren je nachdem, wer sie erzählt, doch am Schluss sind sie anscheinend so gut mit einander ausgekommen, dass sie sich noch einmal verabredeten. Als der Aufenthalt meines Vaters in Paris sich schließlich dem Ende neigte, waren die Beiden schon ein festes Paar. Keine neun Monate später war meine Mutter hochschwanger und mit Wehen auf dem Weg in die nächste Notaufnahme. Mein Vater zog bald darauf nach Frankreich und dann dauerte es nicht mehr lang bis zu einer pompösen Hochzeit mit schreiendem Baby. Mein Vater und meine Mutter einigten sich auf mehr oder weniger deutsche Vornamen für meinen Bruder und mich und lebten glücklich und zufrieden bis vor ungefähr fünf Jahren.

Jetzt aber zurück zu Frank und meiner Mutter.

„Ich weiß ja, dass alles auf Sofie fällt, aber ich kann das nicht!", klagt meine Mutter. Sie weint, das höre ich an ihrer Stimme.

„Lucie! Wenn sie zu mir kommt, ist das für alle Beteiligten am besten. Sie kann lernen mit ihrer Gabe und dem Wandeln umzugehen. Es ist gefährlich, sie damit allein zu lassen. Sie braucht jemanden, der ihr zeigt, wie alles funktioniert. Und das lernt sie am besten auf meiner Schule. Außerdem ist sie dann von anderen umgeben, die so sind, wie sie. Der Umgang mit Gaben kann schwierig sein, das weißt du doch."

Gaben? Ich? Eine Gabe? Nun, ich bin ganz gut in Sport, die Beste in der Klasse, aber eine Gabe ist das nicht, eher hart erarbeitet.

„Ja, natürlich weiß ich das! Dennoch... I-ich..."

„Lucie, sie ist bei mir in guten Händen. Du kannst mir vertrauen, dass ich auf sie Acht geben werde. Also, was sagst du? Soll ich das mit der Schule regeln?"

„In Ordnung. Ja, mach", schnieft meine Mutter.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was da gerade genau abgeht. Oder anders formuliert: Ich kann es nicht glauben.

„Am besten wäre es, wenn du sie Montag um neun Uhr in den Zug setzt. Dann habt ihr noch das Wochenende zusammen. Ich muss morgen schon wieder weg, sonst würde ich sie mitnehmen. Aber wenn du zustimmst, besorge ich dir noch die Tickets und organisier alles. Wäre das in Ordnung?"

Ich bin vollkommen baff. Montag ist in vier Tagen. Ohne mich auch nur zu fragen, wird hier einfach über meinen Kopf entschieden. Das gefällt mir gar nicht.

Ich höre nur das Schluchzen meiner Mutter, nehme aber an, dass sie nickt, denn Frank sagt: „Gut. Ich glaube, wir sollten jetzt ins Bett gehen. Es ist bereits spät."

Er steht auf und ich husche so schnell ich kann zurück in mein Zimmer.

Ich auf einem Internat in Deutschland. In vier Tagen. Und ich kann mich nicht einmal wirklich dagegen wehren. Wenn mich nicht alles täuscht, gehen da nämlich Sachen hinter der Fassade ab, von denen ich noch gar nichts ahne. Sachen, die jegliche Rebellion meinerseits nichtig erscheinen lassen würden. Ganz abgesehen davon bin ich eh nicht wirklich die Art Teenager, die sich gegen die Entscheidungen der Eltern auflehnen muss. Was noch lange nicht heißt, dass ich es okay finde,wenn Dinge über meinen Kopf entschieden werden.

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(A/N: Es freut mich, dass du die Geschichte gefunden hast! Hi! Es ist mir eine Ehre.

Wenn dir Grammatik und/oder Rechtschreibfehler auffallen, melde dich gerne! Ich habe die Kapitel in den letzten Jahren gefühlt schon an die Tausend mal gelesen und überarbeitet, da werde ich ein wenig blind für sowas. Danke <3)

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