Zugfahrt ins Kriegsgebiet

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Am Montagmorgen weckt mich mein Handywecker um sechs, wie sonst auch. Ich hatte vergessen, es auszuschalten. Sonst gehe ich immer noch vor der Schule joggen, sogar am Wochenende. Ich mag die Stadt am Morgen, wenn alles noch ruhig und verschlafen ist. Aber heute fühle ich mich nicht im Stande, mir das anzutun.

Dass ich Paris heute verlassen würde, hatte mir meine Mutter schon am Freitagmorgen beim Frühstück gesagt. So konnte ich mich noch von all meinen Schulfreunden verabschieden. Manche von meinen engeren Freunden hatten fast sogar etwas geweint, als sie mich Freitag zum letzten Mal in den Arm nahmen. Sogar mein Ex hatte sich zu einem „Tschüss!" hinreißen lassen. Ich weiß nicht, was ich in diesem Moment in seinen Augen sah. Vielleicht Wut, Bedauern oder Eifersucht. Ich habe keine Ahnung. Aber das ist vorbei! Das habe ich mir geschworen. Ich werde die Vergangenheit hinter mir lassen. Wenn man schon mal die Chance dazu bekommt... Ich beschließe sie zu nutzen.

Gestern Nachmittag hatte ich meinen Koffer gepackt. Wirklich viel brauche ich nicht. Anziehsachen, Zahnbürste und so ein Zeug, meine Laufschuhe, Badesachen, vielleicht eines der erst halbverstaubten Bücher und mein Federmäppchen. Ach ja, und der Laptop. Mehr ist es nicht wirklich. Das, was ich noch brauche, werde ich mir schon zulegen. Ich bin jetzt nicht kriminell oder so. Eigentlich dachte ich eher an kaufen.

Insgesamt brauche ich nur einen Koffer und der liegt schon im Auto. Für die Fahrt hat mir meine Mutter einen Rucksack gepackt, der ebenfalls im Kofferraum unseres Wagens verstaut ist.

Ich quäle mich aus dem Bett. Die Nacht habe ich kaum geschlafen und wenn, dann nur sehr schlecht. Ich will nicht weg von Zuhause!

Verschlafen tapse ich ins Bad. Vier Nächte fast ohne Schlaf haben ihre Spuren hinterlassen. Meine Augen liegen tief in den Höhlen und ich habe ziemlich krasse Augenringe. Die Haare stehen mir kreuz und quer vom Kopf ab. Sie sind rot. Ein intensives, helles Rot. Allerdings wirken sie jetzt etwas glanzlos. Meine grünen Katzenaugen, die sonst immer funkeln, blicken mich müde an. Eigentlich braun gebrannte Haut sieht heute bleich aus und an der linken Schläfe pocht ein dicker, roter Pickel. Meine rechte Gesichtshälfte und mein rechter Arm sind ganz verknittert von Kopfkissen und Laken. Kurzum, ich sehe schrecklich aus. Vielleicht ganz gut, dass mich meine Mutter nicht aufwecken musste. Sie wäre mit Sicherheit überzeugt, ich hätte mir eine Erkältung eingefangen.

Ich gehe unter die Dusche und stelle sie eiskalt. Guten Morgen!

Danach sehe ich schon etwas besser aus. Die Knitter sind weg, die nassen Haare verdecken den Pickel und die Kälte hat die Blässe ein wenig vertrieben. Der Rest ist geblieben. Ich föhne mir die Haare. Das geht bei der Länge natürlich schnell. Dann ziehe ich mich an. Erst finde ich kein bequemes T-Shirt, doch schließlich habe ich Erfolg. Bequem, unförmig, verwaschenes Dunkelgrün. Perfekt!

Schließlich gehe ich runter zum Frühstück.

Es sind fast neun Stunden Zugfahrt. Demnach würde ich so um sechs in Füssen ankommen. Zweimal umsteigen, in Mannheim und in Augsburg. Warum Frank mir nicht eine bessere Verbindung rausgesucht hat, bleibt mir schleierhaft. Ich weiß zwar nicht sonderlich viel über Zugstrecken zwischen Paris und Bayern, aber dass es schneller als neun Stunden gehen kann, habe ich innerhalb von drei Minuten im Internet herausgefunden. Aber ich zahle den Spaß ja nicht, also habe ich beschlossen lieber den Mund zu halten und die neun Stunden mit Würde zu tragen.

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Als es Zeit wird zu gehen, machen meine Mutter und ich uns auf den Weg zum Bahnhof. Natürlich ist Stau! Vielleicht wäre es besser gewesen mit der Metro zu fahren. Aber das wollte meine Mutter nicht. Naja, wir sind ja rechtzeitig los.

Während der Fahrt herrscht dumpfes Schweigen. Und als wir um zehn vor neun ankommen, sieht meine Mutter unglaublich traurig aus. Mit geschultertem Rucksack und den Koffer hinter mir herziehend, laufe ich still neben ihr her zum Bahnsteig. Ich will sie nicht allein in Paris zurücklassen. Wirklich nicht. Zum Glück kommt Thomas in ein paar Tagen wieder.

AccasuraWhere stories live. Discover now