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Lea

Ich setze mich wie immer ganz ans Ende einer Reihe, so dass ich nur auf einer Seite jemanden sitzen habe, um den ich mich während eines Kurses Gedanken machen muss. Ich bin genug damit gefordert, mich auf eine Person konzentrieren zu müssen, die mir zu nahe kommen könnte. Es ist in den letzten Tagen einfacher geworden, mit meinen Ängsten und auch mit all den Menschen auf einem Campus umzugehen, aber noch muss ich immer mal wieder dieses Schaudern und das Beschleunigen meines Herzschlags runterkämpfen, wenn mir jemand zu nahe kommt. Aber ich merke auch, dass es mir immer leichter fällt, mich unter den Studenten zu bewegen, mir nicht mehr ständig jeder ihrer Bewegungen oder ihrer Anwesenheit bewusst zu sein.

Nach wenigen Minuten in einer Vorlesung bin ich entspannt genug, um auch wirklich zuhören zu können. Und jetzt nach einer Woche bin ich sogar schon so weit, den Blick zu heben und meinen Mitmenschen hier und da ein entspanntes Lächeln zu schicken. Das verdanke ich vor allem der Tatsache, dass mich die meisten hier sowieso nicht beachten. Ich bin eine von sehr vielen und verschwinde in der Masse. Niemand interessiert sich für mich. Und diese Feststellung verleiht mir so etwas wie eine Befreiung von meinen Fesseln. Und je tiefer ich atmen kann, desto mehr finde ich zu meinem alten Ich zurück.

Ich setze mich an meinen Tisch und lege meine Materialien bereit. Dies heute wird meine zweite Vorlesung bei Mrs. Walters sein. Ich hoffe, dass es heute besser läuft als letzte Woche und ich mehr von der Vorlesung mitbekomme. Trotzdem wünscht ein Teil von mir sich, dass Ryan sich wieder neben mich setzen wird. Vielleicht auch deswegen, denn mein Körper hat sich mittlerweile schon daran gewöhnt, dass es ihn gibt. Meine Ängste sind nicht weg, wenn ich so wie gestern Abend mit ihm auf der Veranda sitze, aber sie sind leiser geworden und ich kann mich in seiner Nähe entspannen. Die leise Stimme in meinem Kopf, die immer dann laut wird, wenn sie denkt, ich könnte in Gefahr sein, verstummt nach einigen Minuten in seiner Nähe.

Als ich aufsehe, nimmt nicht Ryan neben mir Platz, sondern Ian. Er begrüßt mich nicht, er lächelt nicht, er setzt sich nur einfach an den kleinen Tisch neben meinem, legt seine Materialien darauf und streckt die Beine von sich. Okay, das ist Ian, wenn er in meine Nähe ist, spüre ich nur dieses Flattern im Magen und die Hitze, die in Wellen durch meinen Körper flutet. Und ich bin mir seiner Anwesenheit auf einer ganze anderen Art bewusst. Eine nicht-furchteinflößende Art, sondern eine, die tief unten in meinem Körper etwas weckt, von dem ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.

Das war schon früher so. Mein Körper fühlt sich schon seit sehr langer Zeit von Ian angezogen und das hat auch Trevor mir nicht nehmen können. Nur weiß ich jetzt nach Trevor nicht, wie ich mit diesem Verlangen umgehen soll. Es fühlt sich beängstigend an, dass mein Körper etwas so laut verlangt, vor dem mein Verstand sich fürchtet. Und obwohl Ian während unserer Arbeit im Cafè kaum ein Wort mit mir redet und er sich sichtlich Mühe gibt, mich nicht zu bemerken, wird diese Sehnsucht in mir mit jedem Tag stärker und ich wünsche mir, wir könnten einfach wieder Freunde sein. Und vielleicht mehr als das.

Ich hebe den Blick, als Mrs. Walters den Hörsaal betritt und mit einem Zitat beginnt: »Wenn zwei Philosophen zusammentreffen, ist es am vernünftigsten, wenn sie zueinander bloß »Guten « sagen. Sagte einst Jean Paul Satre«, beginnt sie mit einem angespannten Lächeln. Dieses Zitat und ihr Gesichtsausdruck sagt so viel über Mrs. Walters aus, dass ich ein Grinsen nicht unterdrücken kann. Penny hat höchstwahrscheinlich recht. Mrs. Walters hält nicht viel davon, wenn jemand einen eigenen Kopf hat. Sie hält diesen Kurs nicht, um mit ihren Studenten zu diskutieren, sondern um ihnen ihre Meinung aufzuzwingen.

Mein Blick schweift auf Ians Hände, die gefaltet auf seinem Tisch liegen. Ich betrachte seine Finger, die schmal und lang sind, und seine Nägel, die akkurat geschnitten sind. Dann sehe ich auf meine Nägel. Ich verwende immer leichte, kaum auffällige Farben. Meine Acrylnägel sehen auch gepflegt aus, aber nur, weil ich dank Acryl schaffe, nicht mehr daran herumzuknabbern. Dafür kaue ich jetzt immer öfters auf meiner Unterlippe herum, wenn mich eine Situation über die Maßen anspannt. Ganz oft passiert mir das, wenn ich mit Ian zusammen im Café arbeite.

The Distance between usWhere stories live. Discover now