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Lea

Ian ist schon im Café, als ich komme. Er hebt kurz den Blick, dann sortiert er weiter Tassen in das Regal über der Kaffeemaschine, ohne mich zu beachten. Obwohl heute meine zweite Woche mit ihm im Café beginnt, hat sich noch immer nichts geändert. Er spricht nur mit mir, wenn es unbedingt sein muss, ansonsten tut er einfach so, als würde es mich gar nicht geben. Diese Atmosphäre, die dadurch entsteht, schafft nicht das beste Arbeitsverhältnis, aber ich wüsste ohnehin nicht, was ich zu ihm sagen soll. Vielleicht liegt es auch an uns beiden. Keiner von uns ist besonders scharf darauf, die Vergangenheit anzusprechen. Und das müssten wir tun, um wieder so etwas wie eine Beziehung aufbauen zu können. Freundschaft wird es wahrscheinlich nie wieder zwischen uns geben.

Natürlich könnte ich versuchen, ihn um Entschuldigung zu bitten, aber das habe ich schon an dem Tag versucht, an dem er River Falls verlassen hat, nur wenige Wochen vor seinem Abschluss an der Highschool. Er stand plötzlich einfach vor mir, in jeder Hand einen Koffer, seinen Pick-up hatte er schon beladen, und drängte sich an mir vorbei aus dem Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr ohne Abschied zu seiner Mutter, um bei ihr die letzten Wochen vor College-Beginn zu verbringen.

Er ist vor mir zu seiner Mutter geflohen, der Frau, die ihn als Kind so schlimm verraten hat, dass er nie darüber hinweggekommen ist. Wenn ich den Mut gehabt hätte, hätte ich ihn aufhalten können, aber ich war nicht soweit. Das bin ich bis heute nicht. Ich habe es nie laut ausgesprochen, aber ich wurde vergewaltigt und mein Schweigen hat zuerst Ian vertrieben und dann Stella ihr Leben gekostet.

Stumm stelle ich die Serviettenhalter auf die Tische, richte die Stühle ordentlich aus und putze anschließend über die Glasfläche der Auslage, an der die Kinder gern ihre Nasen plattdrücken, um die Kuchen besser sehen zu können. Danach drehe ich das Schild an der Tür auf offen und stelle mich neben Ian hinter die Theke, um auf die ersten Gäste zu warten. Es vergehen unangenehme Minuten, in denen ich in meinem Kopf das Ticken der Uhr höre, die in einem der Klassenräume an der West River Falls High über der Tafel hing und in stillen Augenblicken so laut zu hören war, dass man das Gefühl hatte, das Geräusch, das der Sekundenzeiger beim Weiterspringen macht, würde einem im Kopf widerhallen.

Als die Tür aufgerissen wird, ist dieses Geräusch so laut in der Stille, dass ich zusammenzucke und erschrocken den Kopf herumreiße.

»Oh mein Gott«, entfährt es mir und ich greife mir heftig atmend an die Brust. Mein Herz rast nicht, weil Ryan das Café betritt, sondern wirklich nur, wegen der plötzlich zerrissenen Stille, trotzdem mustert Ryan Ian und mich unter zusammengekniffenen Lidern hervor. Und ich kann deutlich in seinem Gesicht ablesen, dass er versucht, die Situation abzuschätzen. Da Ian und ich aber mehrere Schritte voneinander entfernt stehen, fällt sein Urteil wohl richtig aus und er nickt mir mit einem breiten Grinsen zu.

»Ich dachte, ich besuche dich mal bei der Arbeit, auf meine Nachrichten hast du ja nicht geantwortet«, sagt Ryan und setzt sich an einen Tisch in Ians Bereich. Meine Tische sind die in der anderen Hälfte des Cafés.

»Sie vergisst immer ihr Handy aufzuladen, wahrscheinlich ist es nur schon wieder aus«, wirft Ian mit diesem abfälligen Unterton in der Stimme ein, mit dem er mich so oft bedacht hat, wenn er mich seine Freunde bedienen lassen hat. Innerlich krampft sich alles in mir zusammen, aber ich gebe mir Mühe, es ihm nicht auch noch zu zeigen, stattdessen ignoriere ich seinen Kommentar einfach, denn eigentlich hat er sogar recht. Ich vergesse tatsächlich ständig, mein Handy anzustecken. Manchmal bin ich auch einfach nur viel zu bequem, noch einmal aus dem Bett zu kriechen, meine Aufgaben zu unterbrechen oder das Buch beiseite zu legen, in dem ich gerade lese.

Ich gehe um die Theke herum und stelle mich neben Ryan, um ihn zu begrüßen, denn das ist es wohl, was er erwartet, auch wenn es mir unangenehm ist, in welche Situation er mich gerade mit seinem Auftauchen hineinzwingt. Er nimmt meine Hand und hebt sie an seine Lippen, dann hält er sie einfach weiter fest. Ich bin so verwirrt von der Situation und dem Prickeln in meinem Rücken, weil ich weiß, dass Ian uns beobachtet, dass es mich nicht einmal stört, dass er meine Hand hält. Wir waren jetzt schon zwei Mal miteinander aus und haben am Wochenende auch telefoniert.

The Distance between usWhere stories live. Discover now