28. Alkohol lockert die Zunge

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Achtung: Am Ende dieses Kapitels und in dem folgenden werden sensible Themen wie Depressionen, Suizid und ähnliche Dinge angesprochen. Wer sich dadurch getriggert fühlt, sollte dieses und das  nächste Kapitel am besten überspringen!

Nach einer Weile öffnete sich Harrys Zimmertür und kurz blieb mir der Atem stehen. Ich war es ja gewohnt, dass er gut aussah und ich hatte hunderte Bilder von ihm im Internet gesehen, aber das hier toppte gerade alles um Längen, da ich ihn in der Realität so erleben durfte.

Harry trug einen Anzug. Bei seinem schwarzen Hemd waren die oberen Knöpfe offen und so konnte ich ungehindert seine Tattoos begutachten. Über dem Hemd trug er ein graues Jacket, was ihm einfach unfassbar gut stand. Verrückterweise hatte er keine passende Anzughose, sondern eine schwarze Skinnyjeans an. Trotzdem stand es ihm einfach perfekt. Seine Haare waren etwas verstrubbelt, aber so, dass sie enfach nur weich und schön aussahen.

"Ich musste mich doch wenigstens etwas angemessen kleiden", meinte er verlegen und kam auf mich zu. "Du siehst übrigens wunderschön aus", meinte er leise und sah mir in die Augen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen. Diese grünen Augen fesselten mich und zogen mich in ihren Bann.
Ich räusperte mich und sagte nur: "Danke. Du auch."

Da grinste Harry und bot mir seinen Arm an. Lachend hakte ich mich bei ihm unter und er führte mich ins Esszimmer. "Diana, das sieht echt toll aus", lobte er mich und ich grinste freudestrahlend bis über beide Wangen. Ganz wie ein Gentleman zog Harry einen Stuhl hervor, auf dem ich dann Platz nahm und setzte sich dann mir gegenüber. Kurz schwiegen wir uns an und dann meinte er:

"Ach verdammt. Das riecht zu gut und ich habe einen Bärenhunger. Ich muss jetzt was essen." Lachend füllte ich uns Braten, Klöße und Gemüse auf die Teller. Harry irritierte mich, als er plötzlich seine Augen schloss, seine Hände faltete und anfing leise zu beten.

"Danke, dass hier sitzen darf. Danke, dass ich das alles hier erleben darf und mir Möglichkeiten offenstehen, von denen ich vor einigen Jahren nicht mal geträumt hätte. Danke, dass ich genug zu Essen habe, ein Dach über dem Kopf und einen festen Schlafplatz. Danke für meine Familie und für meine Freunde und insbesondere für meine Lästerschwester, die mir dieses fantastische Mahl zubereitet hat. Danke für die Musik, die mein Leben und mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Danke, dass ich leben darf."

Er öffnete die Augen wieder und lachte als er meinen perplexen Gesichtsausdruck bemerkte. "Du bist gläubig?", fragte ich ihn erstaunt.
"Nein, nicht wirklich." Er lachte. "Aber ich finde, dass man manchmal mehr die Dinge um sich herum schätzen sollte und darauf achten sollte, was man tut. Und wenn ich alleine bin oder unter Leuten, bei denen ich mich geborgen fühle, bete ich häufiger vor dem Essen und sage wofür ich dankbar bin. Ansonsten vergessen das Viele leider zu schnell. Seitdem lebe ich irgendwie viel achtsamer und nehme nicht alles als selbstverständlich hin, denn das ist es absolut nicht. Diese Dankesreden erinnern mich einfach daran, wer ich wirklich bin: Ein kleiner Junge aus Holmes Chapel, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die richtige Portion Mut und Glück hatte." Er zuckte mit den Achseln, um das Ganze abzutun.

Aber ich widersprach ihm. "Du bist nicht nur ein kleiner Junge aus Holmes Chapel. Der bist du mal gewesen und bestimmt existiert er auch immer noch in dir, aber du hast dich weiterentwickelt und das ist gut so. Harry, du hast Talent. Deine Stimme ist einfach der Wahnsinn und du fühlst und lebst die Musik, was nur die wenigsten Leute können. Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen und ich bewundere dich dafür, dass du offenbar so bodenständig geblieben bist, aber du bist der, der du bist. Das solltest du nicht vergessen und stattdessen lieber zwangsweise an der Vergangenheit festhalten. Du hast dich entwickelt. Du solltest das zulassen und dich nicht schlechter machen als du bist."

Nachdenklich sah Harry mich mit schiefgelegtem Kopf an. Er schien zu überlegen und auch in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. War ich jetzt zu weit gegangen? Ich hatte doch eigentlich nichts Schlimmes gesagt. Oder hatte ich ihn aus Versehen gekränkt? Was, wenn er jetzt einfach wortlos aufstehen und gehen würde? Was sollte ich dann denn machen?

Schließlich tat Harry aber nichts von alldem, was ich mir gerade an schlimmen Szenarios ausmalte, sondern grinste mich einfach nur an und meinte: "Guten Appetit."

Während des Essens lachten wir unglaublich viel und redeten und redeten und redeten. Es tat einfach gut. Ich konnte mit Harry ganz ungezwungen reden, alles schien so leicht mit ihm. Ich hatte auch keine Scheu ihm private Dinge zu erzählen und er hielt es genauso. Wir hatten einfach eine Vertrauensbasis, die wie aus dem Nichts auferstanden zu sein schien. Der Rotwein versüßte uns den Abend zusätzlich und hatte unsere Zungen mehr gelockert als sie sein sollten.

"Manchmal würde ich schon gerne alles hinschmeißen, weil es mir zu viel ist", lallte Harry, "Aber dann denke ich an meine Fans und die kann ich nicht im Stich lassen." Er rülpste und wir hatten erstmal einen Lachflash. "Naja es ist ziemlich viel, das alles. Neue Songs schreiben, Tour, Album aufnehmen, fast nie zuhause sein, der ständige Druck von der Öffentlichkeit...", sprach er weiter als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten.

"Das alles macht mich ziemlich fertig. Ich habe einen psychischen Knacks, könnte man sagen." Er lachte und auch ich musste lachen, obwohl die Situation eigentlich überhaupt nicht lustig war.

"Ich habe viel Zeit in psychischer Behandlung verbracht. Ich war damals bei One Direction immer derjenige, der am meisten im Rampenlicht stand. Klar, am Anfang habe ich das genossen, aber es wurde irgendwann zu viel. Mir ging es nicht gut. Man hat mich damals mit einer leichten Depression diagnostiziert. Mittlerweile geht es mir wieder einigermaßen gut, aber ab und zu geht es mir immer noch schlecht und ich falle zurück in alte Verhaltensmuster."

Harry starrte in sein Glas. Ihn schien die Geschichte sehr mitzunehmen. Verständlich. Und für mich besonders.

"Ich kann das nachvollziehen", begann ich stockend. Ich wusste, dass der Alkohol der Grund war, warum ich nun redete, aber es fühlte sich richtig an, endlich jemandem davon zu erzählen. Und ich wollte es niemandem lieber erzählen als Harry. Jahrelang hatte ich dieses Geheimnis mit mir herumgetragen, war daran fast zerbrochen und nun musste ich es einfach aussprechen. Langsam bahnten sich die Worte an die Oberfläche.

"Ich kann dich verstehen, Harry. Ich habe vor ein paar Jahren angefangen mich zu ritzen und vor etwa anderthalb Jahren versucht mich umzubringen."

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