5 - Von fremden Gedichten und purer Verwirrung

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"etzt noch einmal langsam."

May kniff die Augen zusammen und atmete einmal tief durch.

"Du hast vergessen, etwas vorzubereiten, um deine schauspielerische Ader ans Licht zu bringen. Dann wurde dir das Thema 'Liebe' zur Improvisation vorgeschlagen und du hast ernsthaft verlangt, einen Spielpartner zu bekommen - das bleibt vorerst unkommentiert, wobei ich mich wirklich frage, woher du diesen Mut genommen hast. Und zum Schluss hast du mit Josh Parker, mit dem wir noch nie zuvor ein Wort gewechselt haben, eine Romeo und Julia Show der Extraklasse, von der Mrs Roswood in höchstem Maße begeistert war, abgezogen? Wer bist du und was hast du mit meiner besten Freundin Ever gemacht?"

Gut, möglicherweise wirkten die Begebenheiten vom Vortag ein wenig überrumpelnd und wahrscheinlich wäre es besser gewesen, May gestern noch darüber zu informieren, aber schließlich musste ich selbst erstmal damit fertig werden.

"So könnte man es auch zusammenfassen", meinte ich nickend. "Und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was da gestern mit mir los war, aber...ich weiß auch nicht, irgendwie hat es mich befreit."

Es stimmte. Es stimmte, dass, während ich auf der Bühne gestanden hatte, all meine Sorgen und mein Kummer mit jedem ausgesprochenen Wort meinen Körper verlassen hatten und mit der Luft weit, weit weg geflogen waren. Und das hatte sich verdammt gut angefühlt.
Aber nicht nur das, denn ich hatte auch zum ersten Mal meine Gefühle gegenüber Noah offenbart, auch wenn er natürlich unmöglich wissen konnte, dass ich von ihm gesprochen hatte.

May lächelte mich aufrichtig an und ich sah fast so etwas wie Stolz in ihren Augen aufblitzen:
"Ich bin mir sicher, du wirst alle anderen in die Knie zwingen und zur Hauptrolle auserwählt werden."

"Nein", sagte ich leise, "ich hoffe nicht. Ich möchte die Hauptrolle doch gar nicht."

Sie hielt mich fest, sodass wir beide stehen blieben und kümmerte sich nicht darum, dass zwei Jungs in uns rein liefen, weil sie wohl mit unserem abrupten Stopp nicht gerechnet hatten.
Ihr Blick wurde weich und sie sah mir so direkt in die Augen, als könne sie in meinen Kopf schauen.

"Hey, Ever. Ich verstehe, dass du vielleicht Angst hast, dich nicht blamieren willst oder was auch immer in deinem Köpfchen vor sich geht. Auch wenn ich gestern nicht dabei war, wie du die Bühne gerockt hast, weiß ich trotzdem, dass du fantastisch warst. Es liegt dir im Blut. Wieso hätte ich dich wohl sonst auf Theater bringen sollen? Ich bin deine beste Freundin, also kenne ich doch fast so gut wie du dich selbst und genauso gut deine Stärken. Lass zu, dass die Welt dich zu etwas größerem bestimmt, als du jetzt bist.
Das Leben ist wie ein Kunstwerk und nur du kannst entscheiden, in welcher Farbe du deinen nächsten Pinselsstrich ziehst."

Ich lächelte gezwungen und überhörte gewissenhaft ihre Tumblr Sprüche von depressiven Teenagern, die versuchten, die Welt zu ändern - oder von mir aus auch ihr Kunstwerk. Wie konnte ich denn zum ersten Mal in meinem Leben etwas erreichen, wenn ich nicht wusste wie? Und wie sollte ich vor tausenden Menschen stehen, geblendet von den Scheinwerfern, die auf mich herab fallen und jeden einen Makel an mir zur Schau stellen würden ? Ich konnte es nicht, das wussten May und jeder andere genau so gut wie ich.

May wollte etwas erwidern, aber entschied sich im letzten Moment dagegen und so liefen wir schweigend weiter. Sie wusste, dass ich momentan sowieso nicht an mich glauben würde.

"Verdammt", fluchte ich verärgert, "ich habe mein Geschichtsbuch im Spind vergessen. Geh schon mal vor, ich hole es schnell", erklärte ich und schlug hektisch den linken Gang ein, um zu meinem Spind zu gelangen, der glücklicherweise ganz in der Nähe war.

Ich kam vor der blauen Tür zum Stehen, öffnete schnell das Schloss durch meinen Zahlencode und riss das Buch, das das Oberste auf einem Turm voller unordentlich aufeinander gestapelten Bücher war, heraus.

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