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Ich sitze an meinem Schreibtisch über einer Matheaufgabe mit Dichtefunktionen und denk nach. Ich denke nicht über Mathe nach, das mit der Stochastik habe ich aufgegeben, nachdem Binomialverteilung dazugekommen ist.

Ich denke über die aktuelle Situation nach, über den kalten Krieg, der zwischen meinen besten Freunden herrscht und natürlich über mein Lieblingsthema Nummer eins, Elijah.
Schneller als mir lieb ist verfalle ich in Tagträume über seine ebenholzfarbende Locken, die sturmgrauen Augen und sein niedliches Lächeln, welches er zu selten zeigt.

Ohne es zu wollen, stimme ich Clara irgendwo unterbewusst zu. Wenn ich ihn nicht anspreche, dann werde ich wohl nie erfahren, wer er ist. Denn bis auf seinen Namen und sein Aussehen, weiß ich nichts über Elijah, außer das was noch so über ihn erzählt wird, aber dem kann man ja auch keinen Glauben schenken. Zumal ich alle Gerüchte bisher nur aus Claras Mund gehört habe und die hat wie schon gesagt, eine ausgeprägte Fantasie und Überzeugungskraft.

„Kommst du essen?" Ich zucke zusammen, als ich plötzlich die Stimme meines kleinen Bruders vernehme. In meinem Schreibtischstuhl drehe ich mich zur Türe. Corin lehnt lässig am Türrahmen und grinst mich an, als er meine verschreckte Reaktion merkt. Ich nicke nur, drücke mich vom Schreibtisch ab und rolle mit dem Stuhle ein Stück nach hinten, ehe ich aufstehe.

Der Flur ist schon erfüllt mit dem Geruch von Essen und sorgt gleich dafür, dass ich Hunger bekomme. Müde lasse ich mich auf das Lederpolster vom Stuhl fallen und reibe mir durchs Gesicht, ich verstehe nicht, warum ich so müde bin, immerhin hatte ich heut nur kurz Schule und hab bis auf den Unterricht heute auch nichts Besonderes gemacht. Meine Mutter stellt einen dampfenden Topf auf den Tisch und setzt sich dann, auch kommt mein Vater keine zwei Sekunden später aus dem Wohnzimmer und setzt sich zu uns.

Irgendwann mal hat meine Mutter die Tradition eingeführt, dass wir immer abends zusammen essen, um sowas wie die Familiendynamik zu stärken oder so. Da mein Vater morgens schon immer sehr früh weg ist, frühstücken wir auch nie zusammen. Aber das Frühstück wäre sowieso kein guter Zeitpunkt zum Neuigkeiten austauschen, denn Corin und ich sind nicht unbedingt Morgenmenschen.

Mein Vater schippt sich zuerst etwas von der Suppe in seine Schüssel und reicht, die Kelle danach meiner Mutter. „Und wie war euer Tag so?", fragt diese gespannt in die Runde, als erwarte sie irgendwas Neues. Jeden Abend, also wirklich jeden fragt sie das gleich und jedes Mal bekommt sie die gleiche Antwort zu hören. „Wie immer.", murmeln Corin und ich fast einstimmig. Meine Mutter verdreht die Augen, hakt aber nicht weiter nach, wenigstens hat sie gelernt, dass nachhaken genauso ineffektiv ist, wie zu Fragen. Zunächst löffeln wir alle still unsere Suppe, bis meine Mutter wieder das Wort erhebt. „Wie geht es Karin?", fragt sie an meinen Bruder gerichtet, der nur kurz aufschaut, leicht rot wird und dann nur „gut" murmelt. Karin ist seine Freundin, beide sind schon was länger zusammen und bis auf ihre Namen, harmonieren die beiden ziemlich gut zusammen. Es ist schon fast ekelhaft mir anzusehen, wie das Liebesleben meines kleinen Bruders besser läuft, er ist immerhin erst 15. Wenigstens nerven meine Eltern, seit dem Corin seine Karin hat mich nicht mehr so viel.

Nach dem ich mich geoutet hatte, hat meine Familie erwartet, dass ich das spektakulärste Sex- und Liebesleben überhaupt habe. Jeden Tag haben sie mich gefragt ob es da nicht einen Jungen gibt, als würde ich sofort jedes schwule Individuum dieser Stadt ausfindig machen um es zu küssen.

„Und bei dir Noel, gibt es irgendjemanden?", fragt sie dann mich, den nächsten in der Runde, danach wäre bestimmt mein Vater dran. Ich schüttle den Kopf. Immer noch nicht und es wird vermutlich auch nie jemanden geben und wenn es jemanden geben würde, dann wäre meine Mutter die Letzte, die ich darüber informieren würde.

Sie seufzt nur und schenkt meinem Vater einen verzweifelten Blick, dieser erwidert ihn aber nicht. Mein Vater interessiert sich mehr für die aktuelle Konjunktur, als für meine Fähigkeiten Beziehungen aufzubauen.

Joyeux NoëlWhere stories live. Discover now