Kapitel 18

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Kapitel 18 - Tiger

- Claires Sicht - 

Mir war langweilig. So richtig langweilig! Die beiden Tiger – Riese 1 und Riese 2 – hatten nichts besseres zu tun als auf dem wackligen Tisch gegenüber von meiner Zelle zu pokern. Sie hatten mich mit frischem Wasser versorgt und das war es dann gewesen. Ich saß auf meiner Matratze am Boden und zählte Gitterstäbe. Ich war schon bei 50, als ich den Überblick verlor und zum hundertsten Mal von neu anfangen musste. Frustriert seufzte ich. „Was habt ihr eigentlich mit mir vor?“, fragte ich die beiden gegenüber von mir. Riese 1 sah von seinen Karten auf: „Das wird dir der Boss schon früh genug erklären, Kleine“. „Der Boss? Leon?“, fragte ich verwundert. Würde ich den jetzt auch endlich kennenlernen? Ich hatte irgendwie Angst vor der Verstellung mich mit ihm Face-to-Face zu unterhalten. Wahrscheinlich war meine Angst auch berechtigt. Leon war anscheinend nicht nur irre, sondern er wusste auch ganz genau, wie er seinen Weg durchsetzen konnte. Immerhin hatten er und seine Leute es geschafft mich zu entführen ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Angeblich – laut Patricia, die schon seit zwei Stunden weg war – wussten die McGrey-Leoparden bereits bescheid. Was würden sie tun? Nichts? Einerseits wollte ich, dass sie mich befreiten (das würde doch heißen, dass ich ihnen nicht egal war, oder?) andererseits wollte ich nicht, dass sie sich unnötigerweise in Gefahr begaben. Dieses Hin und Her machte mich verrückt. „Oh oh“, sagte Riese 2 plötzlich, dann grinste er, „Der Boss kommt?“. Ich stand auf und hielt die Luft an. Jetzt? Genau in diesem Moment betrat ein etwa 30-Jähriger Typ mein Gefängnis und musterte mich. Dann grinste er. „Hallo Claire, endlich lernen wir uns mal persönlich kennen. Seine Augen hatten eine merkwürdige Farbe. Dunkler als Jamies. Graphit mit einem Hauch braun. „Leon“, murmelte ich und sah ihm in die Augen. Nur keine Angst zeigen! „Leider kann ich deine Freude nicht nachvollziehen“. „Warum auch“, sagte er lächelnd und baute sich vor mir auf. Uns trennten nur noch die Gitterstäbe. „Du kennst ja den Plan nicht?“ „Was für ein Plan?“. „Du Claire bist der Schlüssel zur Macht. Mit deiner Hilfe werden wir die McGrey Leoparden vernichten“, sagte er, „Mit dir kann ich Jamie vernichten und mit ihm auch seinen Bruder. Es ist wie ein Domino-Effekt“. Was zum weiß ich nicht was faselte er da bloß. „Ich kann nicht ganz folgen“, sagte ich. „Mit dir und deinen Genen können wir es schaffen mehr Silberne zu bekommen“, erklärte er. Also doch. Er brauchte mich und meine Gene. Ich war ein Forschungsobjekt. „Wer sagt, dass ich da mitmache?“, protestierte ich. „Süße“, Leon grinste, „Da wirst du leider nicht gefragt“. Ich wollte etwas erwidern. Irgendein gutes Kontra, aber ich kam nicht dazu. „Boss!“, Patricia kam angerannt, ziemlich außer Atem. „Patricia, meine Süße“, sagte Leon und drehte sich zu ihr um, „Was ist los?“ Sie schnappte ein paar Mal nach Luft, dann schien sie sich wieder gefangen zu haben. „Sie rücken an!“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, „Die McGrey-Leoparden rücken geschlossen an“. „Was?“, sagten Leon und ich fast gleichzeitig. Ich rüttelte an den Gitterstäben. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich musste hier raus! „Wie viele Formationen?“, fragte Leon ruhig, „Wie viele von der Alpha Familie sind beteiligt?“. Patricia zuckte mit den Schultern. „Drei Formationen. Es ist nur James da“. Waren die irre? Wo war Jamie? „Vielleicht hat der Idiot Jamie wieder die Flucht ergriffen?“, fragte sich Riese 2 grinsend, „Würde ihm ähnlich sehen“. „Ein Alpha mehr oder weniger ist auch egal“, sagte Leon und zuckte mit den Schultern, „Das sollte in wenigen Minuten erledigt sein. Patricia, wir müssen los“. „Halt!“, rief ich und rüttelte an den Gitterstäben, „Ihr könnt mich doch nicht hier lassen!“ Sie durften ihnen nichts tun! Leon drehte sich noch einmal zu mir um. „Doch, Schätzchen, wir können“.

- Jamies Sicht - 

Was würde passieren? Wahrscheinlich würde ich nicht eher ruhen können, bis Cole auf der Lichtung auftauchte und mir sagte, dass Claire in Sicherheit war. Erst dann würde ich mich 100% auf die Auseinandersetzung konzentrieren können. Langsam tauchte die Lichtung vor uns auf. Ich war mit meiner Gruppe im Dickicht geblieben während die anderen drei Formationen ihren Platz auf der Lichtung einnahmen. Noch war alles ruhig. Aber aus der Ferne konnte ich schon das Knacken von Zweigen und das Rascheln hören, das das Kommen unserer Feinde ankündigte. Ich schlug die Krallen in den Erde und wartete ab. Es fiel mir schwer einfach zu warten. Nichts tun zu können. James sah so gelassen aus wie immer, doch ich wusste, dass der Schein trügen konnte. Als Alpha tigerte er zwischen Gruppe 2 und 3, die links und rechts neben ihn standen und Gruppe 1 im Hintergrund auf und ab. Das einzige Zeichen seiner Nervosität war seine Schwanzspitze, die aufmerksam zuckte. „Na wen haben wir denn da?“, hörten wir plötzlich eine wohl bekannte höhnische Stimme. James stellte sein Hin und her ein und blieb wie angewurzelt stehen. Ich machte mich schon darauf bereit einzugreifen, sollte mein Bruder die Nerven verlieren, aber es stellte sich als unnötig heraus. Patricia war sorglos aus dem Wald am anderen Ende der Lichtung spaziert und stellte sich James gegenüber, der sich einfach hinsetzte und sie ansah. „Patricia“, sagte er kalt, „Wo hast du deinen nichtsnutzigen Alpha gelassen?“ „Du fragst nach Leon?“, fragte sie, eines ihrer Ohren drehte sich nach hinten „Wo ist Jamie?“. Das Miststück wagte es auch noch besorgt dreinzusehen, sie wusste genau, wo sie wunde Stellen bei meinem Bruder erwischen konnte. Die Formation 4 hinter mir knurrte leise, aber ich brachte sie mit einem warnenden Blick zum Schweigen. Doch James schien wie immer unbeeindruckt. „Nicht hier“, sagte er, „Sag Leon er soll endlich rauskommen, dass ich ihn und sein widerliches Gefolge in Fetzen reißen kann“. „Große Worte von einem kleinen Leoparden“, hörte ich plötzlich Leons Stimme. Dann sahen wir etwas, womit keiner von uns gerechnet hatte. Leons erste und zweite Formation trat aus dem Wald auf die Lichtung. Im Gegensatz zu uns waren sie sehr viel weniger, aber das war nicht das Problem. Das Problem trat jetzt aus dem Wald. Leons Fell war graphitgrau, seine Augen hatten eine Spur braun – typisch Mutierter. Auch er war nicht das neue Problem. Sondern seine Wache. Formation drei. Acht majestätisch goldbraune Tiger traten neben ihm auf die Lichtung, knurrend. Und das verkomplizierte alles.

- Claires Sicht - 

„Willst du mal Ruhe geben?“, blaffte mich Riese 1 an. Seit einer Stunde ging ich den beiden schon auf die Nerven, dass sie mich raus lassen sollten oder/und James’ Clan in Frieden lassen sollen. „Ja, wenn ihr mich rauslasst“, sagte ich unbeeindruckt von seinem Ausbruch, „Sagt mal, was wollt ihr eigentlich von Leon? Wieso gehorcht ihr ihm? Ihr seid doch nicht an ihn gebunden, er kann euch zu nichts zwingen“. Riese 2 schüttelte den Kopf. „Wir sind loyal weil er uns unsere Freiheit gab“ „Die Freiheit unsere natürlichen Triebe auszuleben“, setzte Riese 1 fort und grinste. Ich verzog das Gesicht. Verrückte alles miteinander. Wenn ich doch bloß wüsste, wie es Jamie ging. Oder James, Feli, Allie und Cole. Ja, ich dachte sogar an Haley. Meine beiden Bewacher hatten ihr Poker Spiel wieder aufgenommen und versuchten mich zu ignorieren. „Warum seit ihr nicht bei dem Kampf?“, fragte ich dann. „Weil die anderen da sind“, sagte Riese 1 ohne aufzusehen. „Andere Tiger?“ „Nein, Flamingos“, sagte Riese 2 sarkastisch und schüttelte den Kopf, „Natürlich Tiger. Du musst echt auf den Kopf gefallen sein, Kleine“. „Das frage ich mich auch manchmal“, hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme. Vor Schreck fuhr ich herum und ich hörte meine Bewacher aufspringen. Ein Stuhl fiel um. „Aber hey“, Cole grinste und lehnte sich gegen den Türstock, „Ich mag dich auch so Claire“. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal so froh sein würde, sein Gesicht zu sehen. Wer hätte geahnt, dass ausgerechnet Cole zu meiner Hilfe eilen würde. Meine beiden Begleiter sicher nicht. Gefährlich langsam bewegten sie sich auf ihn zu. „Du musst sehr dumm sein“, zischte Riese 1, „Sehr dumm“. „Na na“, sagte Cole scharf und sah auf, „Nicht frech werden, Idiot“. Riese 1 prallte ein paar Schritte zurück. „Was zum...“. Plötzlich schrie er vor Schmerz auf und fasste sich an die Schläfe. Riese 2 machte eine Satz auf Cole zu, stolperte ehe auch er aufstöhnte. „Ich würde sagen ihr seit dumm“, sagte Cole unbeeindruckt und stieg an den zwei wimmernden Riesen vorbei, „Sich einfach mit mir anlegen... Echt geil, ich wusste gar nicht, dass ich das kann. Ich meine, mein Dad konnte das, aber...“ „Cole!“, unterbrach ich ihn und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, „Würdest du mich freundlicherweise hier raus holen?“ Er schlug sich gegen die Stirn. „Ach ja, deswegen bin ich ja hier.“ Er wandte sich zu den beiden wimmernden Riesen am Boden. „Hey will mir irgendjemand von euch Waschlappen die Schlüssel geben“. Ohne zu zögern reichte ihm Riese 2 den Schlüssel. „Sehr brav“, sagte Cole lächelnd und sperrte meine Zelle auf, „Ihr lernt ja dazu“. Ich hüpfte aus der Zelle und fiel ihm um den Hals. „Danke Cole“, ich ließ ihn wieder los. „Woha“, er grinste, „Keine Ursache. Los, komm. Lass uns von hier verschwinden“.

Cole und ich schlugen im Laufschritt einen Waldweg ein. „Hey Cole“, fragte ich, „Wo sind die anderen.“ „Auf der Lichtung. Sie stellen Leon“, sagte er und drehte sich zu mir um, „Ich bringe dich ins Reservat und gehe dann zu ihnen“. Sofort blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Spinnst du?!“, fragte ich. Cole blieb ebenfalls stehen und sah mich an. „Manchmal, aber was meinst du jetzt genau?“ „Ich gehe nicht ins Reservat zurück“. Er verdrehte die Augen. „Du musst aber. Jamie sagte mir, ich solle dich zurückbringen. Es ist sicherer für dich“. „Cole, der ganze Ärger ist hier mit mir eskaliert. Ich fühle mich einfach schuldig, dass sie alle auf dieser Lichtung stehen und ihr Leben für mich riskieren!“. „Du bist aber nicht schuld“. „Deswegen kann ich nicht einfach untätig im Reservat rumsitzen und nichts tun!“. Cole verdrehte die Augen. „Mann bist du stur“, sagte er. „Hat Jamie auch schon bemerkt“, sagte ich trocken, „Also, bringst du mich jetzt hin“. „Nein“, sagte er vehement, „Ich kann nicht. Jamie würde mich umbringen und wenn dir etwas passiert... Was willst du denn dort tun, Claire? Nimm es mir nicht übel Claire, du bist ein Mensch. Du kannst nichts gegen eine Horde Raubkatzen ausrichten oder helfen“. Ich wusste es selbst nicht. Ich wusste nur, ich konnte nicht mehr ins Reservat. An dem Schlamassel war nur Leon Schuld. Und meine Gene. Meine Mutter. Ich. Alles. Ich spürte, wie ich wütend wurde. „Kommst du jetzt?“, fragte Cole leicht ungeduldig. Jetzt wurde ich auch auf ihn wütend. Klar, ich war ihm dankbar, dass er mich gerettet hatte, aber er verstand mich einfach nicht. Ich liebte Jamie und ich konnte es mir auch eingestehen. Ich musste zu ihm. Eine andere Wahl hatte ich nicht. Da spürte ich es. Ich spürte es brodeln, ein Schauder lief mir über den Rücken. Warm, angenehm und mächtig. Es wartete auf meine Erlaubnis und ich stimmte sofort zu. Dann passierte es. Cole machte erschrocken einen Satz nach hinten: „Was zur Hölle...?!“

Silver EyesWhere stories live. Discover now