Prolog

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Vor einem halben Jahr

„Hast du am Wochenende Zeit? Es ist schon so lange her, dass wir beide Mal etwas zusammen gemacht haben. Wir könnten ja vielleicht shoppen gehen und danach laufen wir zu Tim und essen dort einen Eisbecher. Was meinst du?" Romy sieht mich von der Seite mit ihren blauen Augen fragend an und fährt sich mit einer Hand durch die vom Wind verwüsteten roten Haare, während wir zusammen von der Schule nach Hause laufen. Entschuldigend blicke ich sie an und schüttele leicht mit dem Kopf, weil ich mit meinen Gedanken schon seit einiger Zeit komplett woanders bin. Romy scheint zu merken, dass etwas nicht stimmt. Ihre Hand berührt meine Schulter und wir bleiben auf dem Gehweg stehen. Andere Schüler, welche ebenfalls schon Schluss haben, zwängen sich an uns vorbei. „Was ist denn los? Du bist schon seit einigen Tagen so komisch drauf und ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Du weiß hoffentlich, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?" Ihre blauen Augen sehen mich mitfühlend an und ich seufze leise und nicke langsam, ehe ich den Blick von ihr abwende.

Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass Romy mir helfen will. Aber niemand kann mir dabei helfen. Ich muss alleine damit zurechtkommen. Und ehrlich gesagt will ich auch gar nicht darüber mit irgendwem reden. Klar, es würde mir bestimmt helfen, mir mal die Seele aus dem Leib zu reden, aber ich habe Angst, dass die Menschen um mich herum mich mit anderen Augen ansehen als zuvor. Ich brauche ihr Mitleid nicht und das Getuschel hinter meinem Rücken. Auf gar keinen Fall. Und genau deswegen muss ich alleine damit zurechtkommen.

Ich schenke Romy ein leichtes Lächeln, doch es erreicht meine Augen nicht. „Es ist alles gut, Romy. Ich schlafe nur seit einigen Tagen nicht mehr besonders gut, das ist alles." Sie sieht nicht sehr überzeugt aus, aber schließlich nickt sie und wir laufen den Gehweg weiter entlang. „Wenn ich Zeit habe kann ich mich ja bei dir melden, aber ich schätze unsere Eltern haben schon irgendetwas geplant." Alles ist eine Lüge. Eine pure Lüge. Und es tut mir im Herzen weh, dass ich meiner besten Freundin nicht die Wahrheit erzählen kann. Das mein Vater seinen Job als Elektriker verloren hat und das meine Eltern sich seitdem streiten. Mum kommt erst sehr spät von der Arbeit nach Hause, wahrscheinlich hält sie es nicht mehr aus, dass mein Vater sich so sehr verändert hat. Er ist nur noch eine leere Hülle seiner selbst und erst wenn er zum Alkohol greift, erwacht er wieder zum Leben. Aber dieses Leben macht ihn aggressiv und unberechenbar.

Matteo, mein kleiner Bruder, lässt sich nur noch selten Zuhause blicken, wahrscheinlich hat er ebenfalls die Schnauze voll. Er ist der Erste, welcher früh morgens das Haus verlässt und der Letzte, welcher es betritt. Wir hatten nie eine enge Geschwisterbindung zueinander, aber ich merke, wenn etwas mit meinem kleinen Bruder nicht stimmt. Schon seit mehreren Tagen habe ich ein komisches Gefühl in meinem Bauch, welches dafür sorgt, dass ich nachts nicht mehr ruhig schlafen kann. Stundenlang liege ich mitten in der Nacht im Bett, wälze mich hin und her, starre an die Decke und zähle Schäfchen. Doch das bringt alles nichts. Immer wieder höre ich das laute Brüllen von meinen Eltern aus dem Wohnzimmer, das leise Weinen meiner Mutter und die harten Schläge meines Vaters. Ich weiß nicht, was aus meiner Familie geworden ist. Wie sie sich so sehr verändern konnte und es macht mir Angst. Unglaubliche Angst.

Romy und ich laufen stillschweigend den schwarzen Gehweg mit den kleinen Kieselsteinen entlang. Autos fahren an uns vorbei und hupen, lachende Kinder rennen über den Weg und die Vögel flattern über uns zwitschernd durch die Luft. Als sich die Straße aufteilt, umarmen Romy und ich uns zum Abschied. „Und denk daran mir zu schreiben, wenn du doch Zeit hast. Ich würde mich wirklich freuen." „Okay, mache ich. Versprochen." Mit einem kleinen Seufzen auf den Lippen sehe ich zu wie Romy sich umdreht und die Straße entlang zu ihrer Familie läuft. Und auch ich werde gleich wieder weiter laufen. Doch zuerst möchte ich die friedliche Ruhe genießen. Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und atme die frische Luft von Chicago tief ein und aus. Mein Körper entspannt sich für einen kurzen Moment und all die Anspannung fällt von mir herab. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich konzentriere mich auf meine Umgebung. Hupende Autos, der feine Wind in den Haaren, sprechende Leute, singende Vögel und der Duft von leckerer Lasagne. Sekunden und Minuten vergehen, an denen ich hier auf dem kleinen Fleck stehen bleibe und diese Ruhe genieße. Einfach mal nichts tun und entspannen.

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