Kapitel 35

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An diesem Nachmittag hatte sie das erste Mal das Gefühl, dass der Werwolf ihr tatsächlich zuhörte. Er hatte sich äußerlich nicht geändert, doch seitdem sie ihn von den Fesseln befreit hatte, lag er so nahe am Gitter wie möglich und mit dem Kopf auf den Pfoten.

Er beobachtete sie nicht mehr so intensiv wie früher, doch wenn sie aufstand und hin- und herlief, bewegten sich seine Ohren in ihre Richtung. Sie redete die ganze Zeit mit ihm, nannte ihn immer wieder bei seinem Namen und versuchte, ihrer Stimme einen freundlichen und beruhigenden Klang zu verleihen.

Sie hatte es sich in einem der Sessel direkt vor dem Feuer gemütlich gemacht, so dass sie gleichzeitig lesen und einen Blick auf den Wolf werfen konnte. Sie hatte sich in Snapes Bibliothek nicht entscheiden können, also hatte sie gleich drei Bücher mitgenommen, las ab und zu eine Passage laut vor und erklärte dem Wolf ihre Gedanken dazu.

Amigo war nicht da, aber Krummbein, dessen Wunden eigentlich schon seit Tagen wieder verheilt waren, leistete ihr Gesellschaft.

Hermione machte es nichts aus, auf den Tränkemeister zu warten, doch als sie Lupin das dritte Mal seine Tropfen gegeben hatte, war es halb acht durch, und sie begann sich Sorgen zu machen. Über eine Stunde später kam er schließlich. Wortlos ließ er sich in seinen Sessel fallen. Hermione sah ihn an.

Wenn sie geglaubt hatte, dass er heute Mittag müde aussah, wie sollte sie ihn dann jetzt beschreiben? Seine Haut war nicht nur blass, sie schien regelrecht durchsichtig zu sein, seine normalerweise nachtschwarzen Augen waren blutunterlaufen. Vorsichtig legte sie ihr Buch weg. „Was ist passiert, Severus?"

Er schwieg so lange, dass sie dachte, er würde ihre Frage ignorieren.

„Bei Pomona Sprout hat es im Unterricht einen Unfall gegeben", sagte er dann langsam. „Eine Zweitklässlerin aus Hufflepuff, Miss Albright, war einen Augenblick lang unaufmerksam und ist dem Schrei der Alraune ausgesetzt gewesen. Sie und drei ihrer Klassenkameradinnen sind ins Koma gefallen."

Hermione zog vor Schreck zischend die Luft ein, wagte aber nicht nachzufragen. „Ich habe den Gegentrank gebraut, und Poppy ist der Meinung, sie werden innerhalb der nächsten vier Tage wieder erwachen."

Er verbarg seinen Kopf in den Händen. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich das mal sagen würde, aber ich bin froh, dass die kleine Know-it-all der Gryffindors hier ist."

Er lehnte sich in dem Sessel zurück, die langen Beine weit von sich gestreckt, völlig erschlagen. „Und wie geht es Lupin?"

Hermione zögerte einen Moment, doch dann erzählte sie ihm von ihrem Eindruck, dass er weniger wild und tierisch war als vorher.

Severus zwang sich zuzuhören. Nicht, dass es nicht angenehm wäre, der leise murmelnden Stimme des Mädchens zu lauschen, doch er merkte, dass seine Gedanken in völlig verschiedene Richtungen schweiften und kaum noch fokussiert waren.

Hermione brach ab und beugte sich behutsam ein wenig vor. Sie hatte sich nicht getäuscht. Severus Snape war eingeschlafen. Letztendlich hatte ihn die Erschöpfung überwältigt. Sie stand auf und überlegte einen Augenblick.

Er würde sauer sein, wenn sie ihn schlafen ließ, soviel war sicher. Aber wenn er sich nicht ausschlief, würde er früher oder später zusammenbrechen. Er war erst vor kurzem noch schwer verletzt gewesen, und auch wenn es in der Zaubererwelt weit weniger Zeit kostete, zu rekonvaleszenieren, so war er doch noch lange nicht wieder völlig gesund.

Sie beschloss, dass es seinen Zorn wert war, ihn schlafen zu lassen.

Severus schrak hoch, seine Instinkte als Spion schlugen Alarm. Bei Merlins Bart, er war eingeschlafen! Wild schaute er um sich. Er war noch immer in dem Sessel vor dem Kamin, jemand hatte ihm eine Decke übergelegt und einen Hocker unter seine langen Beine geschoben. Alles in allem war es erstaunlich komfortabel. Was hatte ihn nur geweckt?

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn lautlos aufspringen. Er hatte schon seinen Zauberstab gezückt und konnte sich gerade noch davon abhalten, einen Fluch zu schleudern, als er erkannte, dass Hermione hinter dem Sessel stand, und gerade Amigo auf ihrem Arm landen ließ.

„Verdammt!", murmelte er rau, „was, um alles in der Welt, machst du hier?"

Sie kam zu ihm hinüber und überreichte ihm den Falken. „Lupin versorgen", sagte sie einfach. Er runzelte die Stirn und entrollte das Pergament. Nachdem er es überflogen hatte, steckte er es sorgfältig in seine Tasche. Dann warf er einen Blick auf die Uhr und fühlte sich vom Schlag getroffen. Es war kurz nach sechs Uhr morgens!

Severus streckte seinen Arm aus, packte Hermiones Umhang und zog sie zu sich heran. Er nutzte bewusst all seine Macht, um sie einzuschüchtern. „Mach das nie wieder!", knurrte er so leise, dass er kaum zu hören war, aber die Drohung war unmissverständlich.

„Wenn du dich noch einmal über meinen Willen hinwegsetzt – so wie dieses Mal, indem du mich einfach hast schlafen lassen – dann wirst du dir wünschen, ich sei nie wieder nach Hogwarts zurückgekehrt!"

Hermione versuchte, seine Hand weg zu schieben, aber der der dunkle Mann hatte schon mehrmals bewiesen, dass in seinem schlanken Körper weit mehr Kraft steckte, als man vermuten konnte.

Daher krallte sie ihre eigene Hand in seinen Kragen und zog ihn ihrerseits näher, so dass sich beinahe ihre Nasen berührten. „Du machst mir keine Angst mehr, Severus Snape!", sagte sie und ließ ihn ihren Ärger fühlen. Sie tippte mit einem Finger seine Hand an und ließ blaue Funken sprühen.

Der Tränkemeister spürte, dass hier etwas aus seiner Kontrolle geriet. Die unerträgliche kleine Besserwisserin war gerade ... unerträglich ... nah. Ihr warmer Atem strich über sein Gesicht, ihre Augen funkelten wütend. Verdammt! Sie hatte fein geschwungene Augenbrauen, die jetzt zusammengezogen waren und auf ihrer Stirn in zornigen Furchen endeten. Ihre Wimpern waren hell und flatterten leicht.

Severus spürte, wie seine Wut, die normalerweise stundenlang köcheln konnte, einfach so verpuffte. Sein Blick wanderte über Hermiones Gesicht, aber er vermied bewusst ihre Augen. Er wusste genau, dass sie ein helles Braun waren mit ein paar grünen Punkten, die man nur sehen konnte, wenn man sie direkt ansah. Ihre helle Haut hatte auf ihren Wangen eine leichte Rötung, vermutlich, weil sie sich über ihn ärgerte.

Er hatte das Bedürfnis, über ihr Gesicht zu streicheln, um zu sehen, ob ihre Haut so weich war, wie sie aussah oder ihr Mund so ...

Mit einem Mal wurde ihm klar, was er dachte. Mit einem plötzlichen Kraftakt schob er sie so abrupt fort, dass sie taumelte, wirbelte herum und marschierte ins Nebenzimmer.

Hermione hörte ein plötzliches Klirren und Krachen. Es hörte sich so an, als würfe Snape irgendwelche Sachen an die Wand. Was er auch tat. Dann kehrte Stille ein, und die junge Gryffindor atmete tief ein und aus.

Sie hatte in diesem Moment keine Lust, ihre Gefühle zu analysieren. Warum ihr so heiß war, dass ihr der Schweiß am ganzen Körper ausbrach... Oder sie kaum Luft holen konnte... Oder sie weiche Knie hatte... Eines war definitiv klar: Angst war es jedenfalls nicht.

A snake, with a Gryffindors heartWhere stories live. Discover now