Ein wahrer Jahrhundersturm und lebensverändernde Entscheidungen

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Ein wahrer Jahrhundersturm und lebensverändernde Entscheidungen

Stundenlang konnte ich nichts anderes tun, als einfach nur wegzuschwimmen. Ich wollte beide niemals wieder sehen, doch hatte ich auch das Gefühl, mein Herz bei ihnen zurückgelassen zu haben. Ich fühlte mich so lehr, so ausgelaugt. Doch im Grunde wollte ich auch gar nichts fühlen. Warum hatte ich mich verdammt noch mal in diesen Kerl verliebt, wo er mir doch sowieso nur immer und immer wieder weh tat? Warum konnte ich diese Gefühle nicht für Tyler haben? Er war so nett, fürsorglich und selbstlos. Er machte sich Gedanken um mich und ich schien ihm wirklich etwas zu bedeuten. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Ich floh, bis ich nicht mehr wusste wo oben und unten, wo links und wo rechts war und was zur Hölle ich tun sollte.
„Erbärmlich. Du bist einfach nur erbärmlich. Du bist es nicht wert eine Sirene zu sein, wenn du dich von einem Jungen so aus dem Konzept bringen lassen kannst. Du bist es nicht wert geliebt zu werden. Du hattest es verdient. Verdient deine beste Freundin zu verlieren, verdient ihn zu verlieren, verdient deine Eltern zu verlieren. Du hattest immer nur dich selbst im Kopf. Immer nur drehte sich alles um dich.“, plagten mich meine Gedanken.

Ich konnte nicht mehr. Ich machte halt und schloss die Augen. Alles sammelte sich in mir an. Enttäuschung, Trauer, Sehnsucht, Wut auf Ethan, Wut auf Alice, Hass auf mich selbst.

Ich versuchte die Gefühle zu unterdrücken. Ich wollte nicht länger schwach sein. Nie wieder sollte mich jemand verletzen dürfen. Nie wieder.

Ich öffnete die Augen und schwamm weiter, bis ich auf Festland traf. Ich hatte keinen blassen Schimmer wo ich war. Es hätte eine Insel sein können, ein Kontinent auf dem ich mich befand, ich hätte es nicht bemerkt.

Ich schleppte mich an den Strand und änderte meine Gestalt. Von meinem Kleid war erstaunlich viel übrig geblieben, bloß ein Träger war abgerissen. Dann sah ich in den Wolkenbedeckten Himmel. Ein Gewitter zog auf, doch mir war das egal. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und gab der bleiernen Müdigkeit nach, die sich in meinen Knochen festgesetzt hatte. Ich wollte alles vergessen, den Schmerz, die Trauer, die Wut. Nur noch schlafen. Friedlich schlafen. Ich bemerkte bloß noch die ersten Regentropfen, bis mich die Müdigkeit übermannte und mir Hören und Sehen nahm.

Ich wurde von einer riesigen Welle wach, die mich mit sich riss und weiter an den Strand spülte. Verwirrt öffnete ich die Augen und mir war auf einmal komplett unverständlich, wie ich bei diesem Wetter jemals hatte schlafen können. Das Meer glich einer einzigen riesigen Todesfalle, Donner und Blitze raubten einem Sinn und Verstand und der Regen schien sich in eisigen kleinen Tropfen bis auf meine Knochen zu bohren. Ein Sturm, dem ich selbst unter Wasser nicht gewachsen sein würde, als rappelte ich mich auf und stolperte vom Stand weg, auf der Suche nach einem Unterschlupf.

Ich kämpfte mich durch Wälder und Sträucher, bis ich in der Ferne Lichter erblickte. Ungläubig riss ich die Augen auf und ging weiter, bis ich erkannte, woher die Lichter kamen. Es schien ein winziges Dorf zu sein, in dem ich hier gelandet war, oder Ferienwohnungen. Es war eine Ansammlung von etwa 20 kleinen Hütten und Häusern, die standhaft versuchten dem Sturm zu trotzen. Ich klopfte am erstbesten Haus und klingelte, doch es schien leer zu stehen, also versuchte ich es bei einem, in dem Licht brannte und tatsächlich, die Tür wurde geöffnet und ein kleines Mädchen blickte mich aus großen Kulleraugen an.

„Evangeline! Qu' est-ce que tu fais la?“, ertönte eine Stimme von einem oberen Stockwerk auf französisch. Wo zur Hölle war ich hier? Eine junge Frau, vielleicht Anfang 30 kam die Treppe herunter und blickte mich misstrauisch an. „Qu‘ est ce-que vous faites ici mademoiselle? Il y a une mauvaise tempête dehors, comme vous savez.“ Ich hatte zwar Französisch in der Schule, beherrschte allerdings bloß ein paar Brocken. „Je…äh…je viens d‘Australie.“, brachte ich zitternd heraus. Trotz meiner angeborenen Fähigkeit mich an die Außentemperatur anzupassen, zitterte ich wie Espenlaub. „Du sprichst also Englisch?“, antwortete die Frau fast Akzentfrei. Ich nickte und der Donner ließ mein Inneres aufschreien. „Komm herein. Hier ist es ja fast nicht auszuhalten.“, sagte die Frau und bedeutete mir einzutreten. Schnell folgte ich ihrer Anweisung und sie schloss die Tür. Das kleine Mädchen, das offenbar Evangeline hieß, hatte sich hinter ihrer Mutter versteckt. Sie war bestimmt nicht älter als fünf. „Du bist ja ganz nass Mädchen. Ich hole dir ein Handtuch. Mein Name ist übrigens Marianne. Evangeline, zeig unserem Gast das Wohnzimmer.“ Evangeline rannte in den nächsten Raum und ich folgte ihr, nicht ohne eine Spur aus Schlamm und Sand auf dem blitzblanken Parkett zu hinterlassen. Ein erneuter Donnerschlag fuhr mir durch Mark und Bein, doch ich fühlte mich schon etwas sicherer. Vor mir offenbarte sich ein kleines gemütliches Wohnzimmer. Eine große Couch, ein Kamin, ein Fernseher und ein großer Schrank mit CDs und DVDs füllten den Raum. Im Kamin brannte ein Feuer und ließ die Schatten an den Wänden tanzen, bis Evangeline das Licht anmachte. „So, da bin ich wieder.“, sagte Marianne, die neben uns in den Raum tritt und mir ein riesiges Handtuch entgegenstreckte. Ich wickelte meinen zitternden Körper darin ein und setzte mich neben Evangeline auf die Couch. „Also, wie kommt es, dass du während eines solchen Sturms draußen herumirrst? Ich kann mich außerdem nicht daran erinnern, dich hier schon einmal gesehen zu haben. Du bewohnst keines meiner Ferienhäuser, nicht wahr?“ Es war wirklich bemerkenswert, wie gut diese Frau meine Sprache beherrschte. Ich atmete einmal tief ein und aus. „Um ganz ehrlich zu sein, ich habe nicht einmal eine Ahnung wo ich bin. Ich fuhr… mit meinem Boot raus, doch als der Sturm aufzog bin ich komplett vom Weg abgekommen und gekentert. Schließlich bin ich hier gestrandet und habe nach einem Unterschlupf gesucht. Ich habe die Lichter der Häuser gesehen und gehofft, jemand könnte mir helfen.“, stammelte ich. Marianne machte große Augen. „ Evangeline, ma petite. Tu peux te coucher maintenant? C’est déjà trés tard.“ Evangeline nickte und tapste nach oben. Marianne wandte sich nun wieder mir zu. „Ist das wahr Mädchen? Du bist eine Schiffsbrüschige?“ Ich nickte beklommen. Mir war es unangenehm dieser netten Frau nur die halbe Wahrheit aufzutischen. „Und wo ist dein Boot jetzt?“, fragte sie. „Ich habe keine Ahnung. Ich hab es aus den Augen verloren, als ich gekentert bin.“

Sie nickte. „Hör zu Mädchen, du bist hier in Poum. Wir sind in der Nouvelle Calédonie.“ Mich traf es wie ein Schlag. Ich war so weit weg, so weit weg von allem was mich belastete, doch auch so weit weg von meinem Zuhause. „Lass es uns so machen, du bleibst eine Nacht hier und morgen früh kontaktieren wir deine Eltern und sehen zu, wie du nach Hause kommst.“ Ruckartig hob  ich den Kopf. „Das…das geht nicht.“, stammelte ich. „Warum denn nicht?“, fragte Marianne und runzelte die Stirn. Ich zögerte kurz. „Ich habe keine Eltern. Sie sind tot.“, brachte ich schließlich heraus. Bestürzt riss Marianne die Augen auf. „Oh Mondieu das tut mir wirklich leid! Das war nicht meine Absicht!“ Ich nickte. „Schon okay, du konntest das ja nicht wissen.“ Ich lächelte zaghaft und zuckte die Schultern, worauf Marianne fast schon spöttisch die Augenbraue hob. „Wie wäre es dann damit. Ich stelle dir für die Nacht eines meiner Häuser zu Verfügung, du lässt dir ein heißes Bad ein und isst etwas Warmes, um wieder zu Kräften zu kommen. Wie klingt das?“ „Das ist wirklich sehr großzügig, vielen Dank. Das klingt sehr verlockend.“ Marianne nickte und stand auf. Ich folgte ihr und sie gab mir eine Jacke zum Überziehen. Ich gab ihr das Handtuch zurück und wir wagten uns hinaus in den tosenden Sturm. Zum Glück war das Haus nicht weit weg und wir standen schnell wieder im Trockenen. „Hier ist das Badezimmer, hier die Küche und im Schrank liegt Bettwäsche. Ich bringe dir gleich etwas zu essen, ja?“ „Danke, aber ich habe eigentlich überhaupt keinen Hunger.“ „Na schön, wie du willst.“, antwortete Marianne und zuckte mit den Schultern. Da fiel ihr auf, dass ich gar keine Schuhe trug. „Wo hast du denn deine Schuhe gelassen Mädchen?“, fragte sie verwundert. „Ehm…ich muss sie wohl verloren haben.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Marianne lachte kurz auf und wandte sich zum Gehen. „Marianne!“, rief ich sie zurück. „Ja?“, fragte sie und drehte sich um. „Du kennst meinen Namen noch gar nicht.“ „Na dann verrate ihn mir.“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Emliy. Ich heiße Emily.“ „Na dann gute Nacht Emily. Morgen sehen wir, wie du zurück nach Hause kommst.“ Und mit diesen Worten öffnete sie die Tür, wagte sich hinaus in den Sturm und ich war wieder allein.

Seufzend schleppte ich mich in Richtung Badezimmer, wo ich mich vor den Spiegel stellte. Ich sah ziemlich erbärmlich aus. Ich hatte Kratzer an Armen und Beinen, von den Ästen, die im Wind peitschten und war voller Dreck, nicht zu vergessen, dass ich bis auf die Knochen durchnässt war.

Ich schälte mich aus meinem ruinierten Kleid und warf es achtlos auf den Boden. Als ich auch meine Unterwäsche ausgezogen hatte, stieg ich in die Badewanne und spülte vorsichtig den Schmutz von meiner Haut. Die Kratzer Brannten Höllisch, doch so langsam begann ich mich wieder wohler zu fühlen. Ich nahm mir aus einem kleinen Korb, der auf dem Rand der Wanne Stand ein kleines Fläschchen mit Shampoo und eines mit Duschgel. Als ich den Dreck so gut es ging aus meinen Haaren und von meiner Haut gewaschen hatte, verschloss ich den Abfluss und das Wasser sammelte sich in der Wanne.

Ich legte mich hin und schloss die Augen. Ich versuchte den tosenden Sturm auszublenden und konzentrierte mich ganz auf das warme Wasser, das mich mehr und mehr umgab. 

Was sollte ich morgen tun, wenn mir Marianne ermöglichen wollte nach Hause zu kommen?

Sollte ich in aller Frühe einfach verschwinden, bevor jemand aufwachte?

Oder sollte ich zurückgehen und mich stellen? Auch wenn es mir nicht behagte, die dritte Möglichkeit war die einzig richtige. Nach Hause zurückkehren, mit Ethan und Alice reden und das alles hinter mir lassen. Und wenn es nicht anders ging, würde ich verschwinden. Ich würde Tyler Lebewohl sagen, Will suchen und ihm das mit seinem Vater beichten und verschwinden. Mir war klar, dass ich nicht sofort wieder auf eine Schule gehen konnte und ein normales menschliches Leben führen konnte. Ich könnte hier her kommen. Wenn hier nicht gerade ein Jahrhundertsturm tobte, war es bestimmt wunderschön. Vielleicht konnte ich ja sogar hier unterkommen…Ich wusste nicht wieso, aber auf eine seltsame Art und Weise vertraute ich Marianne und ihrer kleinen Tochter. Die wäre bestimmt ganz begeistert davon eine „echte Meerjungfrau“ zu kennen. Meine Ernährungsgewohnheiten konnte ich ja ein bisschen verschönern. Einen Versuch war es Wert, nicht?

Nach einer Weile stand ich auf und ließ das Wasser ab. Ich war so hundsmüde, ich hätte selbst auf einem Nagelbett einschlafen können. Mit letzter Kraft trocknete ich mich ab, bezog notdürftig mein Bett und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf.

The Beauty of a MermaidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt