Kapitel 18 - Ivy

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Ich sehe Keith die gesamte kommende Woche nicht und langsam versuche ich mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich für die Weihnachtsferien nach Pittsburgh fahren werde, ohne noch einmal mit ihm gesprochen zu haben.

Da heute der 23. Dezember, der Montag vor Weihnachten ist, hat sogar der überengagierte Professor Dukan die Mathe I für Nicht-Mathematiker Vorlesung ausfallen lassen.

Das nächste Übungsblatt wird mich erst nach Silvester, im Neuen Jahr erwarten. Während mich diese Tatsache noch letzte Woche jauchzend vor Freude in die Luft hat springen lassen, bin ich jetzt fast enttäuscht. Denn das bedeutet, dass ich nicht einmal eine Frage bezüglich Mathe I vorschieben kann, um Keith zu kontaktieren.

Jedes Mal, wenn ich mein Handy in der Hand halte, brennt es mir in den Fingern, ihn anzurufen, oder ihm wenigstens eine Nachricht zu schreiben. Ich halte mich aber immer wieder davon ab, denn er will es nicht. Er will mich nicht so in seinem Leben haben, das hat seine Reaktion am letzten Dienstag mehr als bewiesen. Er hat sich so von mir abgeschottet, dass ich schon blind und taub sein müsste, um die Botschaft nicht klar und deutlich zu verstehen. Die Sache hat mich so sehr aus der Bahn geworfen, dass ich zu spät in den Kindergarten zu unserer Theaterprobe gekommen bin. Sabrina hat zwar nur lächelnd abgewunken, aber es ist mir trotzdem peinlich gewesen. Vor allem, weil ich die gesamte Probe über völlig neben der Spur gewesen bin. Mein Blick hat ständig auf Zoey geruht. Ihr ist deutlich anzusehen gewesen, dass sie am Morgen mehr mit angesehen hat, als gut für sie ist.

Sie ist ungewöhnlich verschlossen und ruhig. Ihr junges hübsches Gesicht ernst und die großen Kulleraugen haben ihren Glanz verloren.

Als sie schließlich ihre zwei Sätze als Hase Harlow zu sagen hat, zerreißt es mir schier das Herz. Keith hatte Recht. Ihre Worte sind gemurmelt, scheu und kaum verständlich, weil ihr Sprachfehler überhandnimmt.

Die Kleine kommt ins Stottern, aber ich verpasse meinen Einsatz, ihr die richtigen Worte zuzuraunen, denn ich kann sie nur anstarren. Es tut mir so unfassbar Leid für Zoey und für Keith, der all die Schuld auf sich nimmt. Er lässt sich von der Verantwortung niederdrücken und versucht alle um ihn herum von seinen Problemen fern zu halten.

Seufzend schiebe ich den Haufen Schneeflocken, den ich gebastelt habe von mir fort. Das geht schon die ganze Woche so, wenn nicht die Bilder von Keiths betrunkener Mutter durch mein Hirn geistern, ist es die hilflose Zoey, die ich auch noch im Stich gelassen habe, die mich immer wieder heimsucht.

Aus Scham und Schuld, weil ich am letzten Dienstag bei der Probe völlig neben mir gestanden habe, habe ich mir mehr Bastel- und Organisationsaufgaben über die Weihnachtsferien geben lassen, als ich ohnehin übernommen hätte. Ein großer Teil der Bühnendeko habe ich schon fertig gebastelt, damit ich das ganze Zeug nicht mit dem Bus nach Pittsburgh schleppen muss. Über die Weihnachtsfeiertage dort werde ich das Programmheft und die Werbeplakate gestalten.

In das Bastelchaos habe ich mich aber auch im Versuch, Keith und meine Sorgen zu vergessen, gestürzt. Denn Summer, Rick und Brooke sind schon Freitag zu ihren Familien aufgebrochen, während Adam zwischen Sporteinheiten und Familienfeiern, die bereits anstehen immer nur kurz zum Schlafen oder Duschen in der WG gewesen ist.

Mittlerweile ist es schon seit einigen Stunden dunkel. Die Erschöpfung brennt in meinen Augen und mein Rücken ist ziemlich verspannt, weil ich seit dem frühen Morgen auf dem Holzstuhl am Küchentisch gesessen und gebastelt habe.

Nun ja, die Hälfte der Zeit habe ich mit Grübeln und vor mich her starren verbracht. Langsam drehe ich meinen Oberkörper zur Seite, halte mich mit den Armen an der Stuhllehne fest und überdehne meine Wirbelsäule, bis sie befriedigend knackt.

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