Kapitel 19 - Ivy

8K 444 64
                                    


Weihnachten Zuhause ist dieses Jahr schlimmer, als in all den Jahren zuvor.

Nein, Weihnachten im Heim, nicht Zuhause.

Als ich Ende September meine Sachen gepackt und Pittsburgh verlassen habe, ist mir in all der Aufregung auf das Neue, das mich erwarten wird, nicht bewusst gewesen, was ich alles hinter mir lasse. Jetzt, da ich an die kahle weiße Wand starre, während ich auf eine der fünf alten durchgelegenen Matratze in einem derzeit unbewohnten Zimmer liege, trifft mich die Tatsache mit voller Wucht.

Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich mir eine normale Kindheit wünsche, ein Leben, in dem ich an Weihnachten in mein Elternhaus zurückkehre und wieder in meinem Jugendzimmer liege. Für ein paar Tage wieder Zuhause sein zu können.

Denn dieses Gefühl fehlt mir. Es ist nicht mein altes Zimmer, in dem ich liege, denn das ist schon längst an die jüngeren Bewohner, die langsam zu groß für die Vierbettzimmer werden weitergegeben. In meinem Bett liegt jetzt ein anderes Kind mit einem ähnlichen Schicksal wie dem meinem und großen Träumen.

Die anderen Ehemaligen, die für die kommenden Tage dieses Zimmer mit mir teilen werden, sind heute unterwegs. Ich bin zu spät angekommen, um ihnen noch zu folgen, besser gesagt, ich habe eine anstrengende Reise vorgeschoben, um mich hinlegen zu können und ihnen nicht nachzugehen.

Dass ich müde bin und dringend ein bisschen Ruhe brauche, ist keinesfalls eine Lüge gewesen. Ich bin stehend k.o. Der Schlafmangel der letzten Nacht und das Gedankenchaos in meinem Kopf machen mich völlig fertig und trotzdem gelingt es mir einfach nicht weg zu dämmern. Immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Keiths markantes Gesicht vor mir. Ich spüre seine Lippen auf meinen und was seine Berührungen in mir ausgelöst haben.

Es ist ein Ausrutscher gewesen, rede ich mir zum wiederholten Mal ein.

Keith hatte eine ziemlich harte Zeit, ich habe mir seinen Schmerz zu Herzen genommen und habe ihn nur trösten wollen. Eine Zukunft wird es für uns sowieso nicht geben. Punkt. Ende des Gedankenchaoses.

Doch meine Grübelei endet nicht. Ich drehe mich gedanklich immer wieder im Kreis, bis ich mir seufzend mein Kissen ins Gesicht drücke.

Das kann doch nicht wahr sein. Plötzlich hämmert es an die Zimmertür, aber bevor ich überhaupt Herein sagen kann, wird sie schon aufgerissen und jemand betritt schnaufend das Zimmer.

Ich brauche nicht das Kissen von meinem Gesicht zu nehmen, um zu wissen, dass es Jazmin ist. Bestimmt hat Helen sie angerufen, dass ich angekommen bin, weil ich es, trotz meines Versprechens, nicht gemacht habe.

„Jetzt steh auf du Schlafmütze! Gepennt wird, wenn du alt und schrumpelig bist und nichts Besseres mehr mit deiner Zeit anzufangen weißt!", bellt auch schon die gebieterische Stimme meiner liebsten Heimschwester durch den Raum.

So sehr ich Jazmin auch liebe, gerade würde ich ihr am liebsten den Hals umdrehen.

Ich gebe nur ein Wimmern von mir, das ziemlich effektiv von dem Kissen abgefangen wird. Keine zwei Atemzüge später hat Jazzy es mir auch schon aus dem Gesicht gezerrt und mustert mich mit zusammengekniffenen Augen von oben herab.

Ihr Gesicht schwebt direkt über meinem und ihr langes – mittlerweile türkisfarbenes Haar umgibt mich wie einen Vorhang.

Sie presst die Augen zu engen Schlitzen zusammen, analysiert meine Züge. Ich brauche nicht in den Spiegel zu schauen, um zu wissen, wie beschissen ich aussehe.

„Du hast Männer-Sorgen."

Manchmal hasse ich es, dass Jazmin einen siebten Sinn für Männer-Probleme zu haben scheint.

At First SmileWo Geschichten leben. Entdecke jetzt