Kapitel 18

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Marie

Und so kam es dann auch. Zwei Tage später holte ich Lena vom Bahnhof ab und wir fuhren zu mir nach Hause. Meine Eltern hatten für heute einen Grillabend mit meinen Großeltern organisiert, denn diese wollten meine beste Freundin auch unbedingt kennenlernen. Alle begrüßten sich herzlich und meine Oma begann sofort, Lena auszufragen. Auf die Frage, wie es denn dazu kam, dass sie mich ausgerechnet jetzt besuchte und dafür extra durch halb Deutschland fuhr, antwortete Lena: „Naja, wir hatten uns schon länger mal vorgenommen, uns gegenseitig zuhause zu besuchen. Und dann haben wir einfach spontan beschlossen, dass wir das doch auch jetzt machen könnten. Immerhin sind gerade Semesterferien und wir haben noch ein bisschen Freizeit, bevor bald das neue Semester beginnt.“ Ich war ihr sehr dankbar, dass sie den wahren Grund für sich behielt. Ich wollte nicht, dass meine ganze Familie mitbekam, was mich gerade wirklich beschäftigte. Wenn meine Mama herausfinden würde, dass es um einen Jungen ging, würde sie mich wahrscheinlich bis ins letzte Detail ausquetschen. Sie dachte sowieso schon, dass ich ihr sowas immer verschwieg, dabei gab es da normalerweise einfach nichts zu erzählen.
Als Lena und ich später am Abend schon in Schlafklamotten oben in meinem Zimmer auf dem Bett saßen, waren wir beide ziemlich müde. Wir verschoben das Gespräch über Wincent auf morgen und schauten noch einen Film auf Netflix, bevor wir schließlich schlafen gingen.
Am nächsten Morgen frühstückten wir ganz entspannt draußen auf der Terrasse. Denn obwohl wir schon September hatten, erinnerte das Wetter eher an Hochsommer. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien und wir hatten schon morgens über 20 Grad. Also beste Voraussetzungen, um Lena meine Heimat zu zeigen. Wir gingen eine Runde durchs Dorf und den angrenzenden Wald und ich erzählte ihr die ein oder andere Geschichte aus meiner Kindheit. Doch mein eigentliches Ziel war eine große Wiese am Waldrand, die etwas erhöht an einem Hang lag. Dadurch hatte man eine wirklich schöne Aussicht auf das Dorf und die umliegende Gegend. Sie gehörte zu meinen absoluten Lieblingsplätzen hier. Früher war ich häufig hergekommen, um nachzudenken und wenn ich mal einen Moment für mich brauchte. Auch mit Tina hatte ich hier unzählige stundenlange Gespräche geführt, woran ich mich immer wieder gerne erinnerte. Jedenfalls dachte ich, das wäre der perfekte Ort, um in Ruhe mit Lena zu reden. Denn hier würde uns niemand stören oder unser Gespräch belauschen.
Wir ließen uns also ins Gras fallen und genossen eine Weile lang einfach die Aussicht und sonnten uns. Nach einigen Minuten ergriff Lena das Wort: „So und jetzt will ich wirklich alles wissen. Ich merk‘ dir doch an, dass du die ganze Zeit darüber nachdenkst.“ Sie sah mich eindringlich und auffordernd an. Ich wusste, dass ich mit ihr über alles reden konnte und dass sie es für sich behielt. Also erzählte ich ihr alles, was bei dem Konzert passiert war. Angefangen bei der anfänglichen schlechten Laune meiner Schwester, weil wir nicht in der ersten Reihe standen. Über den Augenblick, als Wincent die Bühne betrat und ich ihn wiedererkannte. Von dem kleinen Zwischenfall mit Anika und der darauffolgenden Einladung für das Meet & Greet bis hin zu dem Moment, als Wincent dann direkt vor mir stand und wie unser erneutes Aufeinandertreffen dann ablief. Lena ließ mich die ganze Zeit reden und unterbrach mich nicht ein einziges Mal.
Als ich geendet hatte, schaute sie mich einen Moment lang einfach nur an, bevor sie vorsichtig anfing zu reden: „Also… wahrscheinlich willst du genau das gerade nicht von mir hören, aber was und vor allem wie du so von ihm erzählst, macht auf mich schon den Eindruck, als wärst du ein bisschen in Wincent verknallt…“ „Was? Nein, auf keinen Fall! Ich mein‘, er ist ganz nett und so, aber… nein!“, unterbrach ich sie sofort. „Marie, ich kenne dich doch. Wenn da überhaupt nichts wäre, hättest du mich doch nicht so halb verzweifelt gefragt, ob wir telefonieren können und du hättest mir die Details vom Konzert auch nicht verschwiegen. Stimmts?“, stellte sie fest. Ja, sie kannte mich wirklich gut, aber dieses Mal zog sie die falschen Schlüsse. Ich war definitiv nicht in Wincent verliebt. „Außerdem hab‘ ich euch doch beim Ball gesehen. Ihr saht da echt süß zusammen aus…“, fuhr sie direkt fort. „Ach Lena… nur weil wir uns da gut unterhalten haben und einen schönen Abend hatten, muss das noch lange nichts bedeuten. Außerdem muss ich mich ja nicht gleich in den erstbesten Typen verlieben, der mich überhaupt mal beachtet“, stellte ich klar und fragte mich insgeheim, ob ich das Ganze nicht doch besser einfach für mich hätte behalten sollen. Aber jetzt war es eh zu spät, da musste ich wohl einfach durch. Denn vielleicht war da doch etwas, was ich einfach nicht bereit war mir einzugestehen. „Also auf mich hat er jetzt nicht den Eindruck gemacht, als wäre er bloß der ‚erstbeste Typ‘. Als ich euch beim Tanzen gesehen hab‘, da sah er echt glücklich aus und hat dich die ganze Zeit angelächelt wie ein Bekloppter“, machte Lena ihren Standpunkt klar. Beim Gedanken an Wincents Lächeln musste ich automatisch auch lächeln, was Lena natürlich sofort bemerkte: „Siehst du, jetzt grinst du schon wieder so, wenn du an ihn denkst. Gib‘ doch einfach zu, dass du ihn magst. Das heißt ja nicht, dass du ihn gleich heiraten musst. Aber darüber zu reden, macht die ganze Sache vielleicht einfacher…“ Ich wusste, dass sie recht hatte und vielleicht sollte ich nun endlich mal über meinen Schatten springen und den Mund aufmachen, sonst könnte mir meine beste Freundin ja auch nicht weiterhelfen.
Ich brauchte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden, bevor ich anfing zu reden: „Ja du hast ja irgendwie recht… Ich weiß nur selbst nicht so genau, wie ich das alles einordnen soll… Wenn ich ehrlich bin, finde ich ihn schon echt attraktiv und super sympathisch. Und nachdem das Eis gebrochen war, hab‘ ich mich auch echt wohl gefühlt bei ihm. Und sein Lächeln geht mir irgendwie auch nicht mehr aus dem Kopf… aber letztendlich ist es doch eh egal, ich hätte ja eh nie eine Chance bei ihm…“ „Wusste ich’s doch“, freute sie sich, bevor sie ernst weitersprach: „Wie kommst du darauf? Mach dich doch nicht immer schlechter, als du bist!“ „Das hat doch damit nichts zu tun… Wenn von seiner Seite aus da auch was wäre, hätte er mich doch nach meiner Nummer fragen können, immerhin hatten wir nach dem Konzert doch kurz Zeit allein… aber wahrscheinlich hat er eh ‘ne Freundin und ich hab‘ mir auch den Moment bei der Umarmung nur eingebildet…“, rechtfertigte ich mich und schaute traurig in die Ferne. Denn irgendetwas tief in mir drin wünschte sich, es wäre anders. Lena nahm mich daraufhin in den Arm, bevor sie antwortete: „Na vielleicht war er ja auch einfach zu feige, dich zu fragen? Oder er hat einfach die Gelegenheit verpasst und wollte das nicht vor den anderen machen? Warum schreibst du ihm nicht einfach mal eine Nachricht auf Insta? Dann merkst du doch früher oder später, ob er dich auch mag oder ob er wirklich nur nett sein wollte…“ Bevor ich etwas dazu sagen konnte, hatte Lena schon ihr Handy in der Hand und Instagram geöffnet. Mit einem „Ich muss mir den Typen jetzt erstmal genau angucken“ gab sie Wincents Namen in die Suchleiste ein und öffnete sein Profil. Ich musste zugeben, ich hatte mir in den letzten Tagen auch schon des Öfteren seine Beiträge und Stories angeschaut, mehr aber auch nicht. Während Lena durch die Bilder scrollte, meinte sie: „Das sind schon echt tolle Fotos. Und er ist schon echt heiß… den solltest du dir schnappen.“ Als ob das so einfach wäre, selbst wenn ich nicht so extrem schüchtern wäre.
Ich starrte einfach nur in die Ferne und versuchte mit der Erkenntnis klarzukommen, dass ich nicht leugnen konnte, dass Wincent mein Herz schneller schlagen ließ. Diese Gefühle waren so neu für mich, denn ich hatte vorher noch nie solche Gedanken, geschweige denn, dass ich jemals verliebt war. Deshalb wusste ich auch nicht, wie ich damit jetzt umgehen sollte. Für einen Augenblick herrschte nun Stille zwischen uns und wir schienen beide unseren Gedanken nachzuhängen. Doch dann ergriff Lena wieder das Wort. „Schreib‘ ihm doch einfach mal. Ich weiß zwar nicht, ob er seine ganzen Nachrichten auf Instagram wirklich liest, aber einen Versuch wäre es doch wert, oder?“, schlug sie erneut vor. Ich zögerte kurz, bevor ich antwortete: „Ach ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist… ich will ihn ja auch nicht nerven…“ Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es Wincent genauso ging. Lena sah mich daraufhin schon wieder mit einem warnenden Blick an und bevor ich jetzt alles noch einmal von vorne mit ihr diskutieren musste, versprach ich ihr, wenigstens darüber nachzudenken und mir zu überlegen, was ich ihm eigentlich sagen wollte.

Seit du bei mir bist, bin ich wieder ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt