Kapitel 101

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Marie

Obwohl ich gerade selbst damit beschäftigt war, einen Weg zu finden, um zu realisieren, was in den letzten paar Tagen alles passiert war und wie es weitergehen würde, jetzt wo meine Beziehung zu Wincent aufgedeckt wurde, registrierte ich ganz genau, wie es auch in ihm arbeitete, als er neben mir auf der Couch saß. Und es tat einfach nur weh, dass er nicht mit mir darüber reden wollte und sich stattdessen wieder einmal von mir abschottete. Es lief doch gerade so gut und wir waren beide auf einem guten Weg, endlich mal unsere innere Ruhe zu finden und unsere Beziehung vollkommen genießen zu können. Das hatte sich dann jetzt wohl erst einmal erledigt, bis wir uns mit dieser neuen Situation irgendwie arrangiert hatten. Ich wusste ja gar nicht so richtig, was jetzt auf mich zukam und ob Wincent öffentlich etwas zu dem Thema sagen wollte. Ich hoffte nur, dass das alles nichts zwischen uns verändern würde.
„Wincent, bitte rede mit mir…“, versuchte ich es dann doch nochmal und sah ihn flehend an. Ich ertrug diese Stille zwischen uns einfach nicht länger. „Marie, ich…“, setzte er an, doch beendete seinen Satz nicht und wandte seinen Blick ab. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand und strich sanft mit meinem Daumen über seinen Handrücken. Er setzte dann erneut an und begann mir zu erzählen, was ihm gerade durch den Kopf ging und mit jedem seiner Worte musste ich mich mehr anstrengen, nicht in Tränen auszubrechen. Zu hören, wie sehr er gerade wieder an allem zweifelte und wie sehr es ihn gerade innerlich zerriss, ließ mein Herz so unendlich schwer werden und ich hatte Mühe, den Tränen nicht einfach freien Lauf zu lassen. Es tat einfach nur weh, Wincent so verzweifelt zu sehen und nicht zu wissen, wie ich ihm gerade helfen konnte. „Was mach‘ ich nur falsch? Ich treffe immer wieder dumme Entscheidungen und bringe damit die Menschen, die ich liebe, in solche Scheiß-Situationen und lasse zu, dass sie verletzt werden!“, murmelte er mit einem bitteren Unterton in der Stimme und sah mich mit seinen unendlich traurigen Augen an. Ich hatte mittlerweile einen so dicken Kloß im Hals, dass ich erst einmal schlucken musste. „Bitte, hör auf, dir das einzureden… du hast keine Schuld an dem ganzen Schlamassel!“, versuchte ich ihn von diesem Trip gleich wieder runterzuholen. Er sollte aufhören, sich sowas einzureden! „Hör du lieber auf, das alles schönzureden… du hast einfach jemand Besseren verdient als mich… jemand, der dein Leben nicht so durcheinander bringt… jemanden, der dich auf Händen trägt und dir viel mehr gerecht wird als ich das mit meinem verkorksten Leben jemals können werde!“, erwiderte er und der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Mittlerweile war er aufgestanden und tigerte unruhig durch die Wohnung. „Ich will aber keinen anderen als dich! Du bist perfekt für mich, warum zweifelst du immer wieder daran? Es wird uns vielleicht nicht immer leicht gemacht, aber bis jetzt haben wir doch alles irgendwie zusammen gemeistert… also schaffen wir das auch dieses Mal… ich liebe dich!“, versuchte ich ihn zu beruhigen und ihm gut zuzureden. „Ich liebe dich doch auch, mehr als alles andere… aber ich hab‘ gerade einfach nicht genug Kraft für uns beide und kann dich nicht beschützen!“ „Du musst mich doch auch nicht beschützen, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen, Wincent… ich sag‘ doch, wir gehen da zusammen durch und nicht du allein für uns beide…“, entgegnete ich einfühlsam und wollte ihn an der Hand wieder zu mir aufs Sofa ziehen. Doch er entzog sich mir und sah mich mit Tränen in den Augen an, als er seine nächsten Worte aussprach: „Es tut mir so leid… ich kann das so einfach nicht… meine Liebe macht dich krank und das kann ich nicht länger zulassen! Es ist besser, wenn wir das Ganze beenden, bevor ich dich noch mehr verletzen kann…“
Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. Hatte ich das richtig verstanden und er machte gerade Schluss mit mir? Nun konnte auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Wincent, nein! Bitte schmeiß das alles nicht einfach wegen ein paar kleinen eifersüchtigen Mädchen weg!“ „Ich kann nicht anders… nicht, wenn du wegen mir so leiden musst…“, flüsterte er mit gebrochener Stimme und auch ihm liefen die Tränen mittlerweile ungehindert über die Wangen. Und dann legte er den Wohnungsschlüssel, den ich ihm irgendwann mal gegeben hatte, auf die Kommode an der Wand, schnappte sich seinen Rucksack, ging zur Tür und verließ ohne ein weiteres Wort meine Wohnung. Und in dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fiel, verließen mich endgültig all meine Kräfte und ich sackte an Ort und Stelle in mich zusammen und fing hemmungslos an zu weinen.
 
Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Ich sah nur immer wieder Wincents verzweifeltes Gesicht vor meinem inneren Auge, während seine Worte sich immer und immer wieder in meinem Kopf wiederholten. Ich konnte und wollte nicht realisieren, dass das alles wirklich passiert war. Doch darüber nachdenken konnte ich auch nicht, dazu war ich gerade einfach nicht in der Lage.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich ganz leise im Hintergrund ein Geräusch in mein Bewusstsein drängte. Erst, als es immer klarer wurde und meine innere Stimme durchbrach, realisierte ich, dass es sich um die Klingel handelte. Eigentlich fühlte ich mich gar nicht in der Lage, die Tür zu öffnen, doch die leise Hoffnung, dass Wincent doch zurückgekommen war, trieb mich an und wie in Trance schlich ich zur Wohnungstür und warf einen Blick durch den Spion. Als ich erkannte, wer da im Treppenhaus stand, riss ich die Tür auf und warf mich einfach der Person in die Arme.
„Hey, ich dachte, ich komm‘ vorbei und bring dich unitechnisch gleich mal auf den neuesten Stand… oh Gott, was ist denn mit dir los?“, fragte meine beste Freundin geschockt und dirigierte mich zurück in den Flur, um die Tür hinter sich schließen zu können. „Marie, was ist passiert?“, hakte sie eindringlicher nach, als ich ihr nicht antwortete und mir die Tränen nur immer weiter wie Sturzbäche über die Wangen liefen. „W-Wincent… hat Schluss gemacht…“, stotterte ich zwischen meinen Schluchzern und sofort schossen mir noch mehr Tränen in die Augen, falls das denn überhaupt noch möglich war. Meine Knie gaben unter mir nach und ich brach erneut einfach kraftlos zusammen. Lena fing mich irgendwie noch auf und schleppte mich zur Couch, wo ich einfach nur regungslos liegenblieb. Ich konnte einfach nicht mehr und ich wusste gerade nicht, wie mein Leben jetzt weitergehen sollte. Meine Welt war einfach wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen und das Wissen darum, wie leidend Wincent mich angesehen hatte, als er gegangen war, machte es nur umso schlimmer.
Ich nahm wahr, wie Lena mir eine Weile immer wieder sanft über den Rücken strich und es so tatsächlich schaffte, mich ein kleines bisschen zu beruhigen. Zumindest so weit, dass ich nicht mehr das Gefühl hatte, jeden Moment an meinen Tränen und Schluchzern ersticken zu müssen. Ich klammerte mich an ihr fest und brauchte gerade einfach den Trost meiner besten Freundin, während ich dann versuchte, ihr zu erzählen, was in den letzten Tagen eigentlich so abging. Geschockt sah sie mich hinterher an: „Oh scheiße… ich hätte ja nie gedacht, dass das alles solche Ausmaße annehmen könnte…“ Sie zog mich noch ein wenig fester in ihre Arme und wir schwiegen einen Moment. „Okay, weißt du was? Das wird zwar nicht das Grundproblem lösen, aber ich geh‘ jetzt schnell rüber in den Supermarkt und hol‘ uns ‘ne Menge ungesunder Sachen für einen Mädelsabend und bring dich erstmal auf andere Gedanken! Und dann überlegen wir uns, wie wir das mit euch wieder hinkriegen, denn ihr beide gehört einfach zusammen!“, präsentierte sie mir dann ihren Plan und ihr Tonfall ließ keine Widerworte zu. Ich gab mich also geschlagen und versuchte gar nicht erst, sie davon abzubringen. Während meine beste Freundin also ihre Schuhe anzog und dem Supermarkt schräg gegenüber meiner Wohnung einen Besuch abstattete, blieb ich einfach liegen und versuchte meine Gedanken zu sammeln.

Seit du bei mir bist, bin ich wieder ichWhere stories live. Discover now