Kapitel 79

879 36 4
                                    

Marie

In München angekommen, machte ich mich auf direktem Weg zum Studio, dessen Adresse mir Wincent vorhin noch geschickt hatte mit den Worten, dass es eventuell heute noch etwas länger dauern würde und wir uns dort treffen und dann gemeinsam mit Fabi in seine WG fahren würden. Ich hatte das einfach mal so hingenommen und war auch ehrlich gespannt darauf, mal zu sehen, wie das bei den Jungs überhaupt so ablief. Wincent würde ja nicht ausgerechnet heute bis Mitternacht oder noch länger an neuen Songs arbeiten wollen.
Gegen 19 Uhr stand ich schließlich vor dem Gebäude und rief meinen Freund an, welcher keine zwei Minuten später durch die Tür kam und mich stürmisch umarmte. „Endlich…“, nuschelte er in meine Haare und vergrub seinen Kopf darin. Ich drückte mich fest an ihn und genoss diesen kurzen Moment, bevor wir schließlich reingingen und er mir einen sanften Kuss auf die Lippen drückte.
Oben angekommen, wurde ich auch von Kevin und Fabi begrüßt, und bevor ich mich versah, saß ich schon mit allen dreien in dem Studioraum, den ich schon aus so vielen Instagram-Stories kannte. „Wir müssen nur noch kurz was fertig machen, okay?“, sah Wincent mich bittend an und war voll in seinem Element. Ich nickte nur und machte es mir mit Fabi auf der kleinen Couch an der Wand gemütlich, obwohl ich meinem Freund genau ansah, dass er mit dieser Euphorie seine wahre Stimmung überspielte und versuchte, seine Gefühle und Gedanken zu verdrängen. Er lenkte sich mal wieder mit der Arbeit ab, anstatt einfach mal eine Pause zu machen und sich Zeit für sich zu nehmen. Aber darauf würde ich ihn ansprechen, wenn wir später allein waren.
Ich hörte also einfach eine Weile zu, wobei ich nicht wirklich verstand, worum es überhaupt ging. Auch Fabi schien nur darauf zu warten, dass Wincent und Kevin endlich Feierabend machen würden für heute und hing die ganze Zeit am Handy. Mein Freund hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Bildschirm vor ihm gerichtet und schien gar nicht mehr daran zu denken, dass ich auch noch hier war. An sich störte mich das nicht wirklich, aber als die beiden nach einer Stunde noch immer nicht den Anschein machten, bald fertig zu werden, und er auf Kevins vorsichtige Anspielungen, das ganze einfach auf die nächste Woche zu verschieben, überhaupt nicht einging, wurde ich doch langsam ungeduldig. „Wincent?“, versuchte ich ihn schließlich darauf aufmerksam zu machen, dass ich auch noch da war. Erst reagierte er überhaupt nicht. Erst als Kevin ihm leicht den Ellenbogen in die Seite rammte, drehte er sich zu mir um und sah mich fragend an. „Wie lange braucht ihr noch? Ich bin wirklich müde…“, fing ich an und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. „Gleich, in einer halben Stunde können wir los!“, antwortete er nur abwesend und hatte sich schon wieder halb umgedreht. Doch ich war mittlerweile etwas genervt, was ich in meinem nächsten Satz auch nicht mehr verstecken konnte. „Ich bin echt k.o., immerhin hab‘ ich heute schon eine anstrengende Prüfung geschrieben und bin dann direkt in den Zug gestiegen, um möglichst schnell bei dir zu sein…“ „Gib mir noch ein paar Minuten, dann können wir gehen!“, blieb er stur und damit war die Diskussion für ihn scheinbar beendet. Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und ging erstmal zur Toilette. Ich war gerade zum allerersten Mal wirklich genervt von ihm und hatte kein Verständnis dafür, dass Wincent seine Arbeit mir vorzog. Wir sahen uns eh schon so selten und gerade im Moment hatte er doch eigentlich keinen Abgabestress und konnte sich mit dem neuen Material Zeit lassen. Da war es doch nicht zu viel verlangt, einfach mal früher Feierabend zu machen und sich Zeit für mich zu nehmen. Gerade, weil wir im Moment so wenig davon zusammen hatten und es ihm eigentlich so schlecht ging.
Als ich von der Toilette zurückkam, stand Wincent in der Studioküche und sah mich einfach an. „Warum machst du so einen Stress?“, fragte er. „Das hab‘ ich dir gerade eben erklärt. Mein Tag war super anstrengend und ich bin einfach nur müde…“, wiederholte ich meine Worte ruhig. „Dann leg dich doch hier kurz auf die Couch, bis wir in die WG fahren…“, versuchte er mich zu überzeugen, doch ich ließ mich nicht darauf ein. „Wincent… kannst du es nicht bitte einfach für heute gut sein lassen? Warum machst du dir gerade schon wieder selbst so einen Stress? Wenn du lieber arbeiten willst als Zeit mit mir zu verbringen, hättest du das sagen müssen, dann wäre ich nicht direkt nach meiner Prüfung in den nächsten Zug gestiegen…“, entgegnete ich und versuchte so, meinen Standpunkt klarzumachen. Und eventuell wollte ich ihm auch ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen einreden. Doch er checkte es irgendwie nicht wirklich und erwiderte: „Ich will dich doch hierhaben, aber ich will auch meine Arbeit an neuen Songs nicht vernachlässigen. Und gerade läuft es endlich wieder so halbwegs gut…“ Ich atmete hörbar aus und versuchte ihm erneut ins Gewissen zu reden: „Man Wincent! Warum siehst du nicht ein, dass du so auf Dauer nicht weitermachen kannst? Du kannst dir noch so viel Mühe geben, alles zu überspielen, ich sehe dir trotzdem an, wie fertig du bist!“ „Aber ich kann doch nicht die ganze Zeit nur rumsitzen und nichts tun, bis wieder alles so ist wie früher! Das dauert doch ewig, so lange kann ich meine Fans nicht warten lassen!“ Die Gereiztheit in seiner Stimme war dabei nicht zu überhören. Und vielleicht hätte ich es einfach dabei belassen sollen, aber gerade war ein Punkt erreicht, wo ich das nicht mehr konnte. „So eine Therapie geht nun einmal nicht so schnell, sowas braucht seine Zeit. Aber das ist doch nicht schlimm… verdammt, Wincent, du brauchst ‘ne Pause! Warum willst du das nicht einsehen?!“ Ich sah ihn verzweifelt an und wusste schon, während ich diese Worte aussprach, dass ich zu weit gegangen war und er das nicht auf sich sitzenlassen geschweige denn akzeptieren würde.
„Sag mal, was soll das? Warum versuchst du mir hier die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen einzureden, statt dich für mich zu freuen, dass ich endlich wieder an irgendetwas Freude gefunden hab‘?“, warf er mir vor und seine Stimme wurde nun lauter. Ich war mir sicher, dass Kevin und Fabi nebenan alles mithören konnten. Aber das war mir in dem Moment egal, ich konnte nicht mehr länger mitansehen, wie mein Freund sich selbst noch weiter an den Abgrund trieb. „Darum geht es doch gerade gar nicht! Aber anscheinend ist dir deine Gesundheit ja total egal oder du merkst einfach nicht, wie scheiße es dir gerade geht! Sonst würdest du dir endlich mal Zeit für dich nehmen und nicht ständig alles nur verdrängen! Denn davon wird es sicher nicht besser!“, erwiderte ich aufgebracht und versuchte, nicht einzuknicken in meiner Meinung. Ich wollte nicht mit ihm streiten, aber anders schien er ja gerade nichts wahrzunehmen. Doch damit hatte ich es wohl endgültig verkackt, denn er verspannte sich noch mehr und obwohl wir noch nie in so einer Situation waren, wusste ich, dass gerade sämtliche Sicherungen bei ihm durchbrannten und die Wut aus ihm herausbrach. „Du hast doch gar keine Ahnung von meinem Leben, also misch dich da nicht ein! Wenn du nicht damit klarkommst, dass ich auch an meine Fans denke, hättest du dir das früher überlegen müssen!“ Er funkelte mich an und ich war so überrumpelt von seinen Worten, dass ich gar nichts kontern konnte, als er mir schon die nächste Sache an den Kopf knallte: „Außerdem bist du noch lange keine Ärztin, also tu nicht so, als hättest du von allem eine Ahnung!“ Aua. Das tat echt weh und ich hätte nie gedacht, dass er mir mal sowas vor den Latz knallen würde. „Ach, gut zu wissen, was du von mir hältst! Aber hast du vielleicht auch mal daran gedacht, wie es mir dabei geht? Ich hab‘ für dich ohne mit der Wimper zu zucken beinahe meine Prüfungen in den Sand gesetzt und das ist jetzt dein Dank dafür?!“, versuchte ich meine Tränen zurückzuhalten und meine Stimme fest klingen zu lassen. Ich wollte jetzt nicht klein beigeben. „Du und dein beschissenes Helfersyndrom! Ich komm‘ auch allein klar, du musst nicht immer so tun, als ob ich ohne dich aufgeschmissen wäre! Vor dir hab‘ ich mein Leben ja auch allein auf die Kette gekriegt!“, schrie er mich an und damit war es bei mir endgültig vorbei.
Ich wusste gar nicht, wie wir jetzt so schnell an diesem Punkt angelangt waren, dass es zwischen uns so eskaliert war. Vielleicht lag es daran, dass wir beide so gestresst waren, jedenfalls konnte ich mir das gerade nicht länger geben. „Weißt du was? Langsam wundert es mich nicht mehr, dass du es mit allen Frauen vor mir immer verkackt hast! Ist ja kein Wunder, wenn du alles als selbstverständlich ansiehst und dir für nichts anderes Zeit nimmst als deinen Job! So viel zum Thema, du bist nicht abgehoben!“, wurde nun auch ich richtig laut. Wir starrten uns noch immer wütend in die Augen und ich wusste sofort, dass ich ihn damit richtig getroffen hatte. Doch darauf konnte ich gerade keine Rücksicht nehmen, er hatte mich schließlich mit seinen Worten auch verletzt und ich konnte seinen Anblick gerade einfach nicht mehr ertragen. Doch anstatt es dabei zu belassen, ging er erneut in seine Abwehrhaltung zurück und setzte noch einen obendrauf: „Wenn du das so siehst, können wir es ja auch einfach lassen! Denn dann macht das alles ja eh keinen Sinn mehr!“
Damit gab er mir den letzten Rest und die Tränen verschleierten mein Sichtfeld. Um ihm diese Genugtuung jetzt nicht auch noch zu geben, drehte ich mich wortlos um und schnappte mir meine Jacke und meine Tasche, welche ich vorhin einfach im Flur abgelegt hatte. Auf dem Weg zur Tür nahm ich noch im Augenwinkel wahr, wie die Tür zum Aufnahmeraum aufging und Kevin herauskam, doch das war mir egal. Ich ließ Wincent einfach stehen und verließ mit meinem Gepäck das Studio.

Seit du bei mir bist, bin ich wieder ichWhere stories live. Discover now