Kapitel 80

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Marie

Laut schluchzend und mit vor Tränen verschleiertem Blick machte ich mich auf direktem Weg zurück zum Bahnhof. Ich sah keine andere Möglichkeit als direkt wieder in den nächsten Zug nach Hannover zu steigen. Wahrscheinlich würde ich die halbe Nacht unterwegs sein, aber das war mir egal, ich wollte einfach nur hier weg und schnellstmöglich Abstand zwischen Wincent und mich bringen. Zum Glück begegnete ich unterwegs kaum jemandem, denn ich hasste es, wenn andere Menschen mich weinen sahen. Doch gerade war mir selbst das ziemlich egal, der Schmerz und die Wut in meiner Brust überschatteten jedes andere Gefühl.
Am Bahnhof angekommen, ließ ich mich kraftlos in einem dieser Wartehäuschen am Bahnsteig auf einen Sitz fallen, zog meine Beine an mich heran und vergrub mein Gesicht an meinen Knien, während meine Tränen noch immer ununterbrochen über mein Gesicht liefen und ich wahrscheinlich mittlerweile aussah wie ein Panda. Ich spürte die mitleidigen Blicke der Passanten um mich herum, doch ignorierte diese, während ich in der eisigen Februarkälte auf meinen Zug wartete. Doch auch das war mir in dem Moment komplett egal, ich registrierte nicht einmal, dass ich fror. Ich saß einfach nur da und stieg später wie ferngesteuert in den Zug, während in meinem Inneren immer wieder Wincents Worte nachhallten, die er mir an den Kopf geknallt hatte und die mein Herz mit jeder Wiederholung noch weiter auseinanderrissen.
Ich starrte während der gesamten Fahrt nur aus dem Fenster nach draußen in die Dunkelheit und konnte seine Worte nicht vergessen. Wie konnte es nur so weit kommen? Über meine Kopfhörer wurde ich viel zu laut mit Musik beschallt, doch selbst die Jungs von Linkin Park konnten Wincents harte und wütende Stimme in meinem Kopf nicht übertönen. Irgendwann, ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, öffnete ich WhatsApp und ging auf den Chat mit Lena. Ich schrieb ihr eine Nachricht, dass ich schon morgen wieder zurück war und ob sie nicht vorbeikommen wollte. Denn ich brauchte dringend jemanden, der mich einfach mal in den Arm nahm. Normalerweise wäre mein Freund da der erste Ansprechpartner, aber da er der Grund des ganzen hier war und ich gerade nicht mal wusste, ob ich ihn denn überhaupt noch als meinen Freund bezeichnen konnte, musste wohl meine beste Freundin herhalten. Und weil ich wusste, dass Lena sofort nachfragen würde, schloss ich WhatsApp wieder und schaltete mein Handy in den Flugmodus. Ich hatte keine Lust, ihr jetzt davon zu erzählen, das würde bis morgen warten müssen.
Mitten in der Nacht kam ich schließlich todtraurig und immer noch sauer wieder in meiner kleinen Studentenwohnung an, die ich erst ein paar Stunden zuvor voller Vorfreude verlassen hatte. Tja, so schnell konnte es gehen und man mit voller Wucht und ohne Vorwarnung von der rosaroten Wolke zurück auf den Boden der Tatsachen knallen…
 
Aus weiter Ferne hörte ich es klingeln, doch ich ignorierte es. Das war bestimmt nur im Traum. Doch als es nicht aufhörte und immer lauter wurde, schlug ich trotzdem die Augen auf. Naja, zumindest versuchte ich es. Nachdem ich letzte Nacht zwar direkt ins Bett gegangen war, aber erst nach Ewigkeiten und unter Tränen eingeschlafen war, fühlte ich mich einfach nur wie überfahren. Ich sah auf mein Handy und stellte fest, dass es gerade mal 8 Uhr morgens war. Wer auch immer hier gerade sturmklingelte, würde jetzt gleich erst einmal was von mir zu hören bekommen. Ich stand also auf und ging in den Flur Richtung Wohnungstür. Als ich im Vorbeigehen in den Spiegel sah, erschrak ich etwas vor mir selbst. Ich hatte rote, geschwollene Augen und dunkle Augenringe gefühlt bis zum Erdkern. Dass ich geheult hatte, und zwar nicht gerade wenig, konnte ich somit wohl nicht abstreiten.
Trotzdem öffnete ich die Tür und wollte schon zu meiner Ansage ansetzen, als mir meine beste Freundin um den Hals fiel. „Oh, zum Glück! Du bist hier! Ich hab‘ mir nach deiner Nachricht echt Sorgen gemacht und konnte die halbe Nacht nicht richtig schlafen, nachdem weder meine Nachrichten noch meine Anrufe zu dir durchgekommen sind…“, sagte sie etwas vorwurfsvoll, verstummte aber sofort, als sie mich richtig ansah. „Oh Gott, was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja schlimm aus!“, stieß sie aus und sah mich erschrocken an. „Ich… es tut mir leid…“ Mehr brachte ich nicht hervor, denn direkt entwich mir ein Schluchzer und ich warf mich wieder in ihre Arme. Ich konnte es einfach nicht verhindern, dass mir sofort wieder die Tränen in die Augen stiegen, wenn ich an den gestrigen Abend dachte.
Lena strich mir beruhigend über den Rücken und lotste mich dann irgendwie zur Couch, wo sie mir die Zeit ließ, die ich brauchte, bevor ich ihr schließlich stockend erzählte, was gestern zwischen Wincent und mir vorgefallen war und was wir uns alles an den Kopf geknallt hatten. „Was?! Wie kann er solche Dinge zu dir sagen? Der hat sie doch nicht mehr alle!“, schnaubte sie wütend und wollte schon aufspringen, doch ich hielt sie zurück. „Aber ich bin ja auch nicht ganz unschuldig… ich hab‘ ihn ja genauso verletzt mit meinen Worten…“, gab ich niedergeschlagen zu. Auch wenn ich sauer war auf Wincent, ich war ebenso schuld an dem ganzen Schlamassel. „Ja, aber ich kenn dich, Marie! Du hast das doch nur gesagt, um dich zu wehren! Sonst wäre es nie so weit gekommen…“ „Das macht es doch aber auch nicht besser…“, entgegnete ich und versuchte meine Tränen unter Kontrolle zu bringen, „Ich hätte ihn mit dem Thema einfach nicht in dieser Situation konfrontieren sollen…“
Lena schien zu merken, dass ihre Wut auf Wincent mir auch nicht weiterhalf und nahm mich einfach erneut in den Arm. „Ach Marie... Auch wenn mich seine Worte unglaublich sauer machen und ich ihm am liebsten eine Ohrfeige geben würde dafür, dass er meine beste Freundin unglücklich macht, gib dem Ganzen vielleicht einfach ein paar Tage Zeit. Das war euer erster richtiger Streit, das wird sich schon wieder einrenken…“, versuchte sie mich wieder aufzubauen. Und dafür liebte ich sie. Dass sie ihre Wut herunterschluckte und einfach für mich da war. Sie blieb den ganzen Tag da und versuchte mich abzulenken, was ihr mal mehr, mal weniger gut gelang. Schließlich machte sie sich gegen Abend auf den Heimweg, um ihre Sachen zu packen, denn sie würde am nächsten Tag nach Hause fahren. Und auch, wenn ich sie gerade gerne hierbehalten hätte, wollte ich nicht, dass sie ihre Familie wegen mir vernachlässigte. Also versicherte ich ihr, dass sie mich ohne schlechtes Gewissen alleinlassen konnte.
„Vielleicht ist es gut, jetzt erst einmal ein paar Tage Gras über die Sache wachsen zu lassen und dann redet einfach nochmal miteinander… das wird schon wieder…“, flüsterte sie mir noch zu, als sie sich an der Wohnungstür von mir verabschiedete und mich in meiner Wohnung zurückließ.
Ich nahm dann zum ersten Mal an diesem Tag mein Handy in die Hand und stellte fest, dass es sich noch immer im Flugmodus befand. Ich schaltete diesen aus und sofort ploppten einige Nachrichten und verpasste Anrufe auf. Fast alle von Wincent. Mein Herz wurde direkt wieder schwer und meine Augen feucht. Eigentlich war ich noch viel zu sauer, als dass ich die Nachrichten überhaupt beachten wollte. Aber ich war eben auch neugierig, was er geschrieben hatte. Und die Neugier siegte schließlich.
 
> Marie! Bitte komm zurück! <
> Wo bist du? Ich mach mir Sorgen, bitte melde dich! <
> Es tut mir so leid, Süße! Bitte verzeih mir! <
> Können wir bitte nochmal reden? <
> Ich liebe dich! <
 
Und noch einige weitere solcher Nachrichten waren auf meinem Handy zu finden. Doch ich klickte keine von ihnen an. Ich war einfach noch nicht soweit, dass ich mich jetzt schon bei Wincent melden konnte, zuerst musste ich selbst mit der Situation klarkommen und mir darüber klar werden, wie es weitergehen sollte und ob das mit uns noch eine Zukunft hatte.
 
Die nächsten Tage ging es mir wirklich schlecht. Ich lag eigentlich nur im Bett und grübelte über Wincent und mich nach. Wie sollte es jetzt weitergehen zwischen uns? Machte unsere Beziehung überhaupt noch Sinn, wenn wir denn anscheinend doch so verschiedene Ansichten hatten? Hatten wir uns so in unseren Gefühlen verrannt, dass wir gar nicht merkten, dass wir eigentlich gar nicht zusammenpassten und unsere Leben viel zu verschieden waren? Oder hatte ich mich einfach von der Vorstellung blenden lassen, dass es endlich jemanden gab, der einfach da war und mir das Gefühl gab, geliebt zu werden?

Seit du bei mir bist, bin ich wieder ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt