Teil 2 - Maurice

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"Guten Morgen - Guten Morgen - Guten Morgen - Guten Mo-" eine blasse Hand klatschte auf den Wecker und ließ den nervtötenden Singsang verstummen. Zumindest für die nächsten fünf Minuten.

Maurice hatte sich gerade umgedreht und war fast wieder eingeschlafen, als das Gesinge von vorne begann.

"Guten Morgen - Guten Morgen - Gu-" dieses Mal wälzte der Teenager sich aus dem Bett und machte ihn ganz aus. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, als er sich vor Jahren einen Wecker gewünscht hatte, der ihm einen guten Morgen wünschte?

Mit zwölf hatte er die Ironie dahinter noch lustig gefunden, immerhin war es schon Nachmittag, wie jedes Mal, wenn der verdammte Wecker klingelte.

Draußen schien schon lange die Sonne und tauchte alles in ein fröhliches, goldenes Licht und alleine der Gedanke daran ließ Maurice etwas wehmütig werden.

Er wollte doch nur raus. Er wollte nur ein einziges Mal raus und die Sonne bewusst auf seiner Haut spüren, doch er wusste, dass er das nicht durfte.

Mit einem Seufzen strich er sich den Schlaf aus den Augen und trat zu dem verdunkelten Fenster. Die Welt da draußen konnte er nur dunkel und schemenhaft sehen und er wusste genau, dass das was seine Augen ihm zeigten nicht die Realität war, doch näher kam er nicht an sie heran.

"Das ist doch.." er seufzte leise und führte den Satz nicht zu Ende. Ja, es war unfair, aber was brachte es schon, das zu sagen? Es war doch eh niemand da, der es hören konnte.

Seine kleine Schwester und sein Bruder waren beide unterwegs, Emily war noch in der Schule und Milo wohl bei einem Freund, sein Vater war von der Arbeit aus für eine Woche weg und seine Mutter hatte gestern gesagt, dass sie heute Einkaufen wollte.

Aber selbst wenn sie da gewesen wären, was hätten sie denn ändern sollen?

Wehmütig sah Maurice nach draußen und merkte dabei kaum, dass er sich auf die Fensterbank setzte. Wie von selbst sank sein Kopf gegen das Glas.

Traurige, grasgrüne Augen starrten aus dem verdunkelten Fenster hoch zu der hellen Sonne und ihr Besitzer fragte sich, ob wohl jemals alles normal werden würde.

Eine Hand mit blasser, fast kränklich weißer Haut legte sich gegen das kühle Glas und eine einsame Träne stahl sich aus dem Auge, rollte über eine blasse Wange.

Maurice schluckte hart. Nein, es würde niemals normal werden. Nicht für ihn.

Früher hatte er alles und jeden gehasst, vor allem seine Geschwister, doch die Wut und der Zorn waren verflogen. Er hatte sich damit abgefunden.. Und wenn er ehrlich war, dann war es besser, dass es ihn getroffen hatte und nicht seine Geschwister.

Trotzdem wünschte er sich manchmal, dass er ganz normal war.

Mit einem trotzigen Schniefen zog er die Nase hoch und wischte sich die Tränen weg, als ein leises Knarren ihn aufschrecken ließ. Die Tür zu seinem Zimmer drückte sich einen Spalt breit auf, ein schwarzer Schatten kam herein gehuscht.

"Ach... Du bist es nur, Shadow. Komm her." Mit einem leisen Zischen lockte Maurice seinen Kater an und streichelte das glänzende Fell.

Das Tier war ganz warm, es war also draußen gewesen, hatte sich wohl von der Sonne wärmen lassen.

"Was meinst du? Glaubst du, ich kann zumindest einmal das Fenster kippen?" Die Luft in seinem Zimmer fühlte sich schon wieder schal und verpestet an und Maurice vermisste die Pflanzen.

Früher hatten sie noch viele Pflanzen gehabt, doch seit sie extra für ihn in dieses Haus gezogen waren und alle Fenster verdunkelt waren, gab es auch keine Pflanzen mehr. Welche Pflanze wuchs schon ohne Sonnenlicht?

"Keine Antwort, hm?" was hatte er auch erwartet? Die Katze konnte natürlich nicht einfach antworten. Maurice seufzte leise und griff dann nach dem Hebel, drehte ihn um 180° und kippte das Fenster. Ein kleiner Strahl Licht fiel herein und automatisch wich der Teenager zurück bis er aus der Gefahrenzone war, schnupperte sehnsüchtig an dem Spalt. Draußen roch es so gut, so verlockend...

Neue Tränen stiegen in seine Augen, doch er blinzelte sie weg. Die paar verstohlenen Minuten wollte er voll und ganz auskosten. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis seine Mutter wieder kam und die würde über das was ihr Sohn hier tat ganz und gar nicht erfreut sein.

Ein Auto fuhr vorbei, was Maurice zurück zucken ließ, doch es war nicht an seiner Mutter. Das nächste Auto ließ ihn nicht zurück zucken.

Maurice kannte sich nicht mit Autos aus, doch dass das hier ein älteres Modell sein musste war ihm klar. Das Auto fuhr so langsam, dass Maurice nicht nur den Mann hinter dem Steuer sehen konnte, er trug ein Shirt mit Bart Simpson drauf und hatte schwarze Haare, sondern auch die Musik hören konnte, die aus den herunter gelassenen Fenstern dröhnte.

"I don't wanna be here anymore
  I don't wanna be here anymore."

Für einige Momente fühlte er sich seltsam verstanden. Er wollte nicht mehr hier sein, er wollte nicht mehr in seiner Haut stecken.

"I don't wanna be here anymore
I know there's nothing left worth staying for."

Doch diese nächsten Zeilen erinnerten ihn daran, warum er noch hier war. Seine Familie. Seine Familie war es wert zu bleiben und deswegen blieb er.

Maurice hätte wohl noch viel länger über die gerade gehörten Zeilen nachgedacht, doch ein Hupen vor dem Haus ließ ihn das Fenster wieder schließen.

Noch im Schlafanzug schlitterte er aus seinem Zimmer in den Flur, wo seine Mutter auch schon die ersten Tüten hinstellte.

"Ich hab dir was mitgebracht." sagte sie mit einem Lächeln zur Begrüßung. Für einen Moment wurde in Maurice' Vorstellung alles möglich. Er stellte sich vor, wie sie eine Tablettenpackung aus der Tasche zog und ihm sagte, dass es eine Heilung gab, doch ihre Worte holten ihn schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.

"Für dich. Aber sag's nicht deinem Vater."

Sie gab ihm ein Reisemagazin. Maurice schluckte seine Enttäuschung runter und lächelte. "Danke." sein Vater mochte es nicht, dass Maurice sowas las. Er sagte immer, dass das das Verlangen nur noch steigern würde, doch der Teenager blätterte gerne darin und sah sich all die Orte an, die er niemals zu Gesicht bekommen würde.

"Hilfst du mir beim Ausräumen?" Maurice nickte. "Klar. Ich bring das nur kurz weg." er hielt das Magazin als wäre es ein Schatz von unvorstellbarem Wert, trug es in sein Zimmer und legte es vorsichtig auf einen Stapel, der aus ähnlichen Zeitungen war und ihm schon bis zum Knie reichte.

~

Leises Maunzen riss Maurice aus seinen Gedanken.

"Hey, was ist denn?" Shadow strich um seine Beine, rieb den Kopf an ihm. "Willst du raus?" die Katze konnte zwar keine Antwort geben, doch Maurice glaubte schon, dass das der Fall war.

"Du hast doch die Katzenklappe, Dummerchen. Na komm, ich nehme dich mit." Maurice zog sich einen Pulli über und öffnete sein Fenster, um die kühle, frische Nachtluft rein zu lassen, dann verließ er gemeinsam mit seiner Katze das Zimmer, ging sich im Flur Schuhe anziehen.

Der Teenager überprüfte noch kurz, dass er Handy und Schlüssel hatte, dann öffnete er die Tür und ging gemeinsam mit seiner Katze nach draußen.

Shadow huschte sofort davon, während Maurice noch die Tür hinter sich abschloss und dann auf die Straße trat. Er mochte es hier. Er mochte die Siedlung mit den kleinen Häusern mit Gärten und den ruhigen Straßen, auch wenn er sie nur bei Nacht bewundern durfte.

Midnight Tears ~ ZomdadoOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz