Teil 11 - Michael

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"Hey, Freak!" Michael sah erst hoch, als sie direkt vor ihm standen. Sie riefen ihm schon die ganze Pause über gemeine Dinge zu, doch er konnte es ziemlich gut ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf etwas ganz anderes.

Er hatte am Morgen gesehen, dass der blonde offensichtlich nicht nur Michaels Nummer bei seinem Handy ein gespeichert hatte, immerhin hatte er einen neuen Kontakt. Und es galt nun, den dazugehörigen Namen zu entziffern.

Natürlich, er hätte auch seine Mutter fragen können, sie hätte es ihm sicher vorgelesen, aber anders als bei dem Foto konnte er es hier nicht auf eine unleserliche Handschrift schieben.

Michael wollte nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machte, deswegen versuchte er das Problem allein zu lösen.

Doch mit der Ruhe schien es nun vorbei, da seine Stufenkameraden vor ihm standen. Schnell sperrte er das Handy, damit sie nicht sahen, was er tat, doch es war zu spät.

"Rufst du wieder Mami an, damit sie dich abholen kommt?" wurde er verhöhnt. "Jetzt wo dein Papi das nicht mehr machen kann, muss sie sich ja ganz alleine um dich Freak kümmern."

Michael sah nicht hoch. Er hatte schon schlimmeres als das gehört und die Jungs konnten ihn eh nicht so sehr auf die Palme bringen, wie Thorsten das konnte.

"Ich wette, manchmal wünscht sie sich, dass es mit dir möglichst schnell zu Ende geht. Wie lange hast du noch? Eine Woche? Oder zwei?" spottete ein anderer weiter. Michael schwieg. Er wusste, dass es ihnen irgendwann langweilig werden würde, wenn er nicht reagierte. Handgreiflich wurden sie nämlich nie, die Grenze wurde dann doch nicht überschritten.

"Hey!" eine Stimme riss ihn aus dem energischen Starren, weil sie nicht zu den anderen gehörte. Als Michael hoch sah, begegnete sein Blick dem eines Mädchens, das wohl zwei oder drei Stufen unter ihm war.

Sie hatte dunkelblonde Haare und Augen, die zwar wie Michaels blau-grau waren, doch die ihren funkelten vor Zorn.

Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und hob das spitze Kinn, als sie zu den größeren Jungen hoch sah.

"Was fällt euch eigentlich ein?!" blaffte das Mädchen weiter. Irgendwie wirkte sie ein bisschen wie ein wütender Terrier. "Zu fünft gegen einen? Das ist einfach nur lächerlich, ihr benehmt euch wie Kleinkinder! Lasst ihn in Ruhe!"

Michael konnte es sich nicht erklären, aber es brachte tatsächlich etwas. Die Jungen trollten sich und ließen ihn in Ruhe. Zumindest für diese Pause.

Michael musterte das Mädchen kurz und senkte dann den Kopf erneut." Danke. Das wäre doch nicht nötig gewesen."

"Darf ich?" ohne seine Antwort abzuwarten setzte sie sich neben ihn und überkreuzte die Beine. Irgendwie erinnerte sie Michael an irgendwen, aber er konnte die Verbindung nicht knüpfen. "Du musst dich nicht bedanken, ich mach das gerne." sie redete einfach weiter, ohne sich daran zu stören, dass Michael nicht antwortete.

"Du bist Michael, nicht war? Ich bin Emily.. Aber du kennst mich wahrscheinlich gar nicht. Ich gehe hier in die neunte Klasse. Bist du in der elften oder in der zwölften?"

Als Michael nicht sofort antwortete, kam sie einfach ein bisschen näher gerückt und lächelte ihn an, bis er dann doch was sagte.

"In der elften. Warum hast du mir geholfen?" er kam nicht umhin, ein bisschen Misstrauen zu empfinden. Warum sollte sie sich einfach so auf seine Seite schlagen und riskieren, selbst ins Visier seiner ehemaligen Freunde zu begeben?

"Weil ich es nicht okay finde, dass die einfach so auf dir rumhacken. Sowas macht man halt nicht. Du siehst nett aus.. Und ich kann nicht lügen. Ich bin Maurice' Schwester."

Michael musterte sie kurz und überlegte, während er sich auf der Unterlippe herum biss. Die Schwester von Maurice wollte sie sein? Wer war Maurice?

"Er hat dich echt gerne. Hat schon viel von dir erzählt." redete Emily einfach weiter. "Er hat es nicht leicht, also sei nett zu ihm. Oder du bekommst es mit mir zu tun."

Michael nickte nur und langsam dämmerte es ihm, warum sie ihm so bekannt vor kam.

Im Dunkeln sahen die Haare des anderen Nachtwanderers nicht so aus, aber vermutlich hatten sie die gleiche Farbe wie die des Mädchens. Wie hieß sie noch einmal? Auf jeden Fall hatte sie diegleiche Nase wie der Junge und auch ihre Lippen hatten eine ähnliche Form.

"Ich versuchs..."

~

"Hallo hallo." wurde Michael von einer freundlichen Stimme begrüßt. Es war der andere Junge. Maurice.

Michael hatte den Namen den Nachmittag über vor sich hin gebetet, hoch und runter, um ihn nicht zu vergessen. Es hatte ja scheinbar geklappt, immerhin hatte er ihn jetzt noch präsent.

"Hallo Maurice." er wusste nicht genau, was er davon halten sollte, dass dieser Emily auf ihn angesetzt hatte.

Auch ihren Namen hatte er gefühlt den Nachmittag über aufgesagt, um ihn nicht zu vergessen.

"Ich hab heute Emily kennen gelernt. Sie ist nett."

Maurice setzte sich zu ihm, wieder dichter als das Michael sich damit noch wohl fühlte, deswegen rückte er ab. "Das ist sie auch. Sie ist wirklich ein Engel."

Maurice schien sich keiner Schuld bewusst zu sein und irgendwie besänftigte es Michael irgendwie. Der blonde hatte es wohl nicht wirklich nicht aus böser Absicht getan.

Irgendwie hatte er das ihm auch nicht zu getraut.

"Mh..." machte Michael irgendwann, als ihm auffiel, dass er derjenige war, der was sagen musste. Er blinzelte angestrengt und suchte in seinem Schädel nach einem Thema über das sie reden konnten.

"Heute ist Freitag.. Oder?" das war ziemlich dämlich gewesen. Doch Maurice sagte nichts dazu, dass Michael nicht wusste, welcher Tag es war.

"Ja, es ist Freitag-" mehr konnte er nicht sagen, weil ihm das Wort abgeschnitten wurde.

"Hey du Mädchen!" Michael erkannte die Stimme sofort und schloss genervt die Augen. Ja, es war definitiv ein Freitag und man hatte ihn aufgespürt. Was würde als nächstes passieren? Er wollte es gar nicht so genau wissen.

"'Cause this is all I've got, And I've nothing more" sangen sie im Chor und Michael war sich ziemlich sicher, dass er das im Laufe des Morgens gesungen hatte.

"We save the worst excuse, but the best in store
Maybe now, we'll finally even the score
Are you counting? - Do you even wanna know?"

Tränen stiegen in Michaels Augen. Er wollte sich selbst nicht die Blöße geben, vor ihnen zu weinen, doch er war nicht in der Lage, die Tränen zurück zu halten.

Er saß einfach nur da, zusammen gesunken, und regte sich nicht. Und auch Maurice schien nicht zu wissen, was er machen sollte, zumindest glaubte Michael das, bis eine warme Hand die seine griff. "Komm, Michael." sagte Maurice. "Wir brauchen die Idioten nicht. Komm mit, wir gehen zu mir." Michael ließ es mit sich machen, stand einfach auf und folgte ihm brav die Straße entlang. Er ignorierte, dass die anderen ihnen folgten, ließ sogar zu, dass Maurice seine Hand hielt.

Michael ließ sich einfach von Maurice durch die Straßen ziehen, bis sie dann endlich wieder in die bereits bekannte Straße einbogen.

"Komm... Aber leise sein, ja?" Maurice zog Michael die richtige Einfahrt entlang und schloss die Haustür auf.

Michael wusste nicht, wann er das letzte Mal mit jemandem nach Hause gegangen war und es überforderte ihn doch mehr als erwarte. Etwas zögernd hielt er sich an Maurice, zog die Schuhe aus, als dieser seine Schuhe auszog, folgte ihm dann auf Zehenspitzen den Gang entlang.

"Maurice?" fragte eine weiche Stimme leise. "Bist du schon wieder da?" Maurice zog Michael mit sich in etwas, das wie ein Wohnzimmer aussah. Doch der Brünette hatte nicht die Zeit, sich wirklich umzusehen, weil plötzlich eine Frau in seinem Blickfeld erschien.

"Maurice?" fragte sie ziemlich entgeistert und Michael war sich auf einmal ziemlich sicher, dass er hier wider Maurice' Behauptung nicht willkommen war.

Midnight Tears ~ ZomdadoWhere stories live. Discover now