Teil 3 - Michael

290 20 6
                                    

Es war still. Fast schon zu still. Michael hörte nicht einmal dass Gedröhne des Fernsehers und das war untypisch.

Normalerweise schlief Torsten abends immer auf dem Sofa ein und ließ die dämlichen Actionfilme auf voller Lautstärke weiter laufen.

Doch heute war es still, obwohl Thorsten da war. Und das schlimmste war, dass Michael nicht wusste, ob es wirklich still war oder ob sein Gehirn ihm nur die Geräusche vorenthielt.

"Tell me what I'm supposed to do..." sang er leise vor sich hin, um sicher zu stellen, dass er überhaupt etwas hören konnte.

Er konnte. Und obwohl er wusste, dass ihn das nur wieder an seinen Vater erinnern würde, sang er leise weiter, während er vorsichtig das Fenster öffnete.

"With all these left over feelings of you..."

Obwohl er heute einen ganz besonders schlechten Tag hatte, war es kein Problem für ihn, aus dem Fenster zu klettern und runter auf den Rasen zu springen. Er hatte diese Bewegungen schon so oft gemacht, dass sie sich fest in sein Gehirn gebrannt hatten.

"'Cause I don't know..."

Mit mürrischer Miene richtete Michael seine Kopfhörer und für einen kurzen Moment überlegte er, ob er noch einmal rein klettern sollte, um sein Handy zu holen, auf der nächtlichen Wanderung Musik zu hören.

Es wäre wohl schön, wenn er nicht nur die Stille hörte, doch wenn er nur daran dachte, dass es nicht die Stimme seines Vaters war, die für ihn sang, wurde er ganz traurig.

"When all these nightmares become real..."

Michael verstummte, setzte sich einfach in das Gras. Warum fühlte es sich so an, als wäre dieser Song nur für ihn geschrieben? Warum passte er so verdammt gut zu seiner Situation?

Mit einer trotzigen Bewegung wischte er sich die Tränen weg und zog die Nase hoch.

"Das ist lächerlich!" fauchte er leise in die Dunkelheit. "Was soll der Scheiß, hm?"

Er wusste nicht einmal, wen er da ansprach, wen er für seine Situation verantwortlich machen wollte. Eigentlich konnte ja auch niemand was dafür.

Michael saß noch einige Minuten einfach so in seinem Garten, dann stand er auf und trat raus auf den Gehweg.

Ihm war durchaus bewusst, dass das hier gefährlich war, ers recht weil es ihm heute so schlecht ging, doch er wollte so gerne seinen Vater besuchen gehen, dass er es einfach riskieren musste.

Es war ja auch nicht weit, vielleicht zwei oder drei Kilometer, und er kannte den Weg ja auch.

Seine Mutter würde damit nicht einverstanden sein, das war Michael klar, aber.... Sie verstand ihn nicht. Sie konnte es nicht.
Was brachte es, Nacht für Nacht mit offenen Augen in seinem Bett zu liegen und nicht zu wissen, ob man hoffen oder bangen sollte, dass man einschlief?

Genau, es brachte nichts. Seine Lauferei brachte auch nichts... Aber dann tat er zumindest was. Er war zumindest in Bewegung.

Die klare Nachtluft klärte seine Sinne ein wenig, zumindest glaubte der Junge das.

Es war schön draußen. Es war eine hässliche Gegend in der er lebte, aber wenn die Straßen nachts leer und friedlich waren, fühlte er sich doch seltsam zu Hause.

Er wanderte einfach durch die Straßen und versank in seinen Gedanken, in Erinnerungen. Erinnerungen daran, wie alles noch normal gewesen war und Erinnerungen daran, wie alles anders geworden war.

Michael schwelgte Stunden lang in seinen Gedanken und trottete einfach nur umher, bemerkte nicht einmal das Auto, das sich ihm schnell näherte.

Wie in Trance trottete er über die Straße, erst das mehrfache, laute Hupen riss ihn aus diesem Zustand. Es brauchte in paar Sekunden, bis er das helle Licht der beiden Augen die auf ihn gerichtet waren als Scheinwerfer identifizieren konnte und als er sich mit einem gewagten Sprung in aller letzter Sekunde von der Straße rettete, hörte er den Autofahrer nur noch "Pass doch auf, Penner!" Brüllen.

Michael ignorierte es. Er saß einfach nur da, sah sich seine aufgeschürften Hände an, ohne den Schmerz zu spüren und lauschte seinem viel zu schnellen Herzschlag.

Was war passiert?

Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Doch während er langsam wieder aufstand und sich umsah, merkte er, dass er keine Ahnung hatte, wo er war.

Es war ein hübsches Viertel, das war wohl war. Die kleinen Häuser wirkten alles gepflegt und selbst bei Nacht freundlich, die Gärten waren alle ordentlich und hübsch eingezäunt.

Es musste schön sein, hier zu leben.

Michael seufzte leise und wischte sich die Hände an der Hose ab, trottete einige Meter zu einem Straßenschild.

Gott sei Dank war eine Laterne in der Nähe, es war also in der Theorie möglich, daß Schild zu lesen. Mit zusammen gekniffenen Augen starrte der Teenager das Schild an, versuchte die Buchstaben irgendwie zu entschlüsseln.

"Komm schon..." murmelte er leise, biss sich auf die Unterlippe. "Komm, ein Buchstabe nur... Nur ein einziger." er starrte auf das Schild, bis es vor seinen Augen verschwamm und er heftig blinzelnd den Kopf abwenden musste.

Ein Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk und Michael wusste, dass in zwei Stunden die Sonne aufgehen würde. Bis dahin musste er dringend wieder zuhause sein.

Aber dafür musste er erstmal herausfinden, wo er denn überhaupt war. Wieder richtete er seinen Blick auf das Schild, doch ihm wurde schnell klar, dass das eine sinnlose Anstrengung war. Heute würde er das Schild nicht lesen können.

Mit einem Seufzen sah er sich um. Wenn ihm schon nichts bekannt vor kam, vielleicht war hier ja irgendwo jemand, der ihm helfen konnte?

Doch die Straße war leer. Niemand war um diese Uhrzeit unterwegs... Oder?

Etwas, oder besser jemand, fesselte Michaels Blick. Die Person war hochgewachsen und so gut er es im Dunkeln beurteilen konnte ein blonder Mann. Und er sah sogar her zu ihm.

Für einen kurzen Moment begegneten ihre Blicke sich und Michael machte gerade den Mund auf, da drehte der Blonde sich weg, ging eine Einfahrt hoch und verschwand in dem dazugehörigen Haus.

Klasse.

Michael stand dort einige Minuten, so lange bis er sich nicht mehr sicher war, ob er sich den anderen nur eingebildet hatte, unschön war der kurze Hoffnungsschimmer verblasst.

Mit zusammen gebissenen Zähnen sah er wieder das verdammte Schild an. Er starrte so lange auf das Schild, dass ihm schwindelig wurde. Alles verschwamm vor seinen Augen und Michael taumelte auf die Straße.

Blaue Punkte tanzten um ihn herum, die lauten Geräusche machten ihn ganz wahnsinnig.

In seiner Hilflosigkeit kauerte Michael sich mitten auf die Straße, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Doch die Lichter und Geräusche blieben. Ob sie eine Einbildung waren?

Was zur Hölle war denn hier los?

In den Häusern in der Nähe gingen die Lichter an, wie Michael blinzelnd feststellen konnte, eigentlich ein Zeichen dafür, dass wirklich was passierte und er sich zumindest nicht alles einbildete, doch gerade konnte er kaum darauf achten.

Erst die Hand auf seiner Schulter ließ ihn zur Besinnung kommen.

"Michael?" fragte ein Polizist in Uniform. Michael nickte nur und war in diesen Momenten so erleichtert, dass, er gar nicht mehr hinterfragte, wie die Polizei ihn gefunden hatte und warum sie überhaupt nach ihm gesucht hatten. Er kam einfach mit in das Auto.

Midnight Tears ~ ZomdadoWhere stories live. Discover now