E I N U N D Z W A N Z I G

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Ich tat es nur widerwillig, aber ich hielt mich an Evelyns auferlegte Grenze. Umso frustrierter war es daher, sie tagtäglich im Unterricht oder in den Fluren der Schule zu sehen. Sie hielt ein warmes Lächeln bereit, für jedes Mal, dass sie mich erblickte. Und ich erwiderte es. Ohne Ausnahme.

Wir sprachen zwar auch miteinander, aber richtige Gespräche entstanden dabei meist nicht. Natürlich hätte ich einfach an ihre Bürotür klopfen können, aber ich wusste nicht, ob ich die Grenzen dann noch einhalten könnte.

Es reizte mich ungemein, zu erfahren, ob Evelyn es könnte. Und meine wachsende Frustration verstärkte diesen Reiz mit jedem weiteren Tag mehr. Evelyn zu Liebe würde ich mich jedoch zusammenreißen, was dem impulsiven Teil meiner Selbst ganz und gar nicht gefiel.

Zwei Wochen nach unserem gemeinsamen Wochenende starteten schließlich die Sommerferien. Fast drei volle Monate, in denen ich die Schule höchsten von außen sehen würde. Fast frei volle Monate, in denen ich Evelyn nicht sehen würde. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir ganz flau im Magen.

Und ich hatte es auch ihm zu verdanken, dass ich am letzten Schultag nicht wie jeder andere meiner Mitschüler seine Sachen einpacken und nach Hause fahren konnte. Nachdem Penny, Kevin und ich uns für die nächsten paar Wochen verabschiedet hatten, trat ich den Weg zum Musiksaal an.

Die große Flügeltür war zu meiner Freude unverschlossen und der Raum dahinter menschenleer. Statt, wie insgeheim gehofft, die hübsche Blondine zu erblicken, verharrte mein Blick an dem schwarzen Klavier. Es kribbelte unweigerlich in meinen Fingern. Das Gefühl von warmen Fingern auf kühlen Tasten, löste in mir eine Innere Vorfreude aus.

So kam es, dass ich nicht lange zögerte und nur Sekunden darauf auf dem Höcker vor dem prachtvollen Musikinstrument saß. Ich vermisste das Spielen auf dem Klavier. Das tat ich sogar sehr. Nur hatte ich es mir bisher nie wirklich eingestehen wollen.

Ich hob vorsichtig den Schutzdeckel an, dann erklang bereits der erste Ton. Dann ein zweiter. Ein dritter. Und ehe ich mich versah, entwickelten meine Hände ein Eigenleben. Tief in meinem Inneren erfasste mich eine Ruhe, die mich jeden Gedanken vergessen ließ. Jede Sorge und jedes Problem waren in diesen wenigen Minuten nicht existent.

Als der letzte Ton schließlich verklungen war, drehte ich mich auf dem Höcker um und blickte in strahlende, blaue Augen. Mein Herz machte einen freudigen Hüpfer, als ich Evelyns Lächeln erwiderte.

„Es ist beinahe Sommer und du spielst Vivaldis "Winter", war ihr amüsierter Kommentar.

„Ich mag den Winter", folgte sogleich meine schlichte Antwort und dann sagte ich völlig ernst, wie bereits Monate zuvor. „Sie sind zu spät."

„Ich wusste nicht, dass wir verabredet waren." Sie sah mich mit erhobenen Augenbrauen und einer Andeutung eines Grinsens auf den Lippen an. „Aber ich bin froh, dich noch einmal zu sehen, bevor die Ferien beginnen." Sie schenkte mir ein liebevolles Lächeln.

„Ich auch", gestand ich. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen. Meiner Vernunft folgend blieb ich jedoch sitzen und sah zu, wie Evelyn auf dem Höcker neben mir Platz nahm. Ihr blumiger Duft stieg mir in die Nase - nicht so aufdringlich, wie es bei vielen anderen der Fall war.

„Du hast übrigens wirklich Talent, Melia", sagte sie mit sanfter, aber doch ernster Stimme. „Hast du schon darüber nachgedacht, nach der Schulzeit mit der Musik weiterzumachen?"

„Du meinst, die Musik zu meinem Beruf zu machen?"

„Das wäre eine Möglichkeit. Du bist bereits jetzt eine großartige Pianistin, Melia. Stell dir nur vor, was sein wird, sollte man dein Talent fördern", stimmte sie mir zu. Ihre Augen strahlten begeistert.

Scherbenherz [TxS / GxG]Where stories live. Discover now