V I E R

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Während alle meine Mitschüler ihre Sachen einpackten und voller Vorfreude dem Wochenende entgegensahen, schulterte ich meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Musiksaal. Anstatt dort, wie am Dienstag abgemacht, Ms Kane anzutreffen, war der Saal leer. Auch nach weiteren fünf Minuten war von der Vertrauenslehrerin nichts zu sehen.

Ihre Unpünktlichkeit wäre mein Freifahrtsschein ins Wochenende gewesen, wäre mein Blick nicht an dem schwarz glänzenden Klavier hängen geblieben. Seit das ganze Chaos mit Cameron ausgebrochen war, hatte ich mich an kein Klavier mehr gesetzt. Nun jedoch bot sich die perfekte Gelegenheit dafür, vor allem, da niemand da war, der zuhören könnte.

Nur Sekunden später saß ich auf dem kleinen Höcker und ließ meine Finger behutsam über die kühlen Tasten gleiten. Ich drückte wahlos eine Taste nach der anderen herunter. Aus einzelnen Tönen wurde eine Melodie und aus einer Melodie ein gesamtes Stück. Für diese paar Minuten war mein Kopf frei von jeglichen Gedanken. Er war auf eine angenehme, befreiende Art und Weise leer.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich abrupt in meinem Spiel inne halten.
„Sie sind zu spät."

„Und Sie sind trotzdem noch hier." Ms Kane bedachte mich mit einem kleinen Lächeln, ehe sie das Lehrerpult ansteuerte, das nicht weit vom Klavier stand. Anstatt  sich einen Stuhl heranzuziehen, setzte sie sich auf die Tischplatte und ließ ihre Beine locker in der Luft baumeln.

„Ihr Können auf dem Klavier ist beeindruckend. Haben sie Unterricht genommen?" Ms Kanes feine Gesichtszüge zeugten von aufrichtigem Interesse. Dabei war ich mir sicher, dass sie mich durch den Small Talk lediglich dazu bringen wollte, mit ihr zu sprechen. Ihr Versuch blieb nicht erfolglos.

„Als ich jünger war, hatte ich ein paar Klavierstunden."  Tatsächlich war dies eine meiner wenigen Kindheitserinnerungen, an die ich gerne zurückdachte. „Aber Sie wollen wohl kaum Ihre Zeit damit vergeuden, mit mir über das Klavierspielen zu reden." Ich hob fragend die Augenbrauen uns sah ihr direkt ins Gesicht.

„Mit jemanden eine Unterhaltung zu führen - ganz gleich, worum es sich dabei handelt -, kann nie als Zeitverschwendung bezeichnet werden", erwiderte sie ernst, meinen Blick erwidernd. In diesem Augenblick erkannte ich, dass etwas anders war. Und das nicht nur, weil wir uns nicht in dem kleinen, stickigen Büro befanden.

Es war Ms Kane selbst, von der diese Veränderung ausging. Ihre gesamte Haltung war offen und freundlich. Ihre hellen, blauen Augen jedoch zeugten von Müdigkeit und ließen sie damit um Jahre älter aussehen, als sie in Wahrheit war.

„Es liegt ganz bei Ihnen, Miss Callahan, worüber wir uns heute unterhalten. Ich würde es natürlich bevorzugen dort anzusetzten, wo wir das Letzte mal aufgehört haben. Allerdings sehe ich keinen Sinn darin, über das Geschehene zu sprechen, wenn Sie nicht bereit sind, sich mir wenigstens etwas zu öffnen."

War ich das? Bereit, mit ihr darüber zu sprechen weshalb ich wegen dem Foto überreagiert hatte? Wäre ich es, müsste ich ein Fass öffnen, dass ich seit meiner letzten Sitzung bei Doktor Sullivan verschlossen hielt.

„Meine Einstellung, über Mr Hayes und das ganze Fotodesaster zu reden ist noch immer die selbe wie die zuvor", sagte ich entschieden. „Wenn Sie aber wirklich mit mir reden wollen, dann können Sie mir verraten, weshalb Sie unseren Treffpunkt auf den Musiksaal verlegt haben."

Ich war in den letzten drei Tagen nicht umhin gekommen, mich das ein und andere mal zu fragen, was Ms. Kane aus meinen Gesicht hatte lesen können, als ich ihr in ihrem Büro gegenüber gesessen hatte. Ich war nicht naiv genug, um mir einreden zu können, dass ihr nichts aufgefallen war.

Ms Kane hob skeptisch eine ihrer perfekt geformten Augenbrauen. „Sind Sie sich denn sicher, dass Sie das wissen wollen? Der Grund für meine Entscheidung, unsere Unterhaltungen in einen größeren, offeneren Raum zu verlegen, wird Ihnen nicht gefallen."

Dass sie sich derart sicher in Bezug auf meine Reaktion war, ließ mich für einen kurzen Moment darüber nachdenken. Schlussendlich war die Neugier größer und ein eindeutiges Nicken meine Antwort. „Ich bin mir sicher."

„Nun gut ..." Sie atmete einmal tief durch, bevor sie mit ihrer Antwort herausrückte. „Als wir uns in meinem Büro befanden, da sahen Sie mich mit einem Blick an, der einem geschlagenen Hund geleichkam, der in jeder Sekunde damit rechnet, noch ein paar Schläge einstecken zu müssen. Ich habe daher gehofft, in einem offenerem Raum würden Sie sie sich nicht derart in die Enge gedrückt fühlen."

Stille. Sie legte sich wie ein undurchdringbarer Schleier über alles und jeden in diesem Raum. In meinem Kopf ratterte es, Chaos brach darin aus. Ich wiederholte Ms Kanes Worte, rief mir in Erinnerung, wie sie sie ausgesprochen hatte und versuchte, aus ihrem Gesicht zu lesen. Nichts darin ließ mich erkennen, was ihr durch den Kopf gehen musste.

„Und ich dachte bisher immer, dass ich ganz gut darin wäre, mir meine Klaustrophobie nicht anmerken zu lassen", brach ich schließlich die Stille, dem ein freundloses Lachen folgte. „Zugegeben, ihr Büro ist geradezu winzig. Mich wundert es, dass es überhaupt Platz für eine einzige Person bietet." Die Worte kamen schärfer aus meinem Mund, als es beabsichtigt war, aber eine vernünftigere Reaktion auf ihre Worte wollte mir auf die Schnelle schlichtweg nicht einfallen.

„Bisher hatte ich ja bis vor Kurzem auch gar keine Gelegenheit, es zu registrieren. Sich in den Klassenräumen und im Musiksaal aufzuhalten, scheint Ihnen jedoch keine Probleme zu bereiten." Ms Kane musterte mich aufmerksam und geduldig.

„Alles kein Problem", bestätigte ich ihr wahrheitsgemäß. Wobei auch das mit der Angst vor verschlossenen, engen Räumen nicht gelogen war. „Ich glaube, die halbe Stunde ist schon längst vorbei. Wären Sie also bitte so freundlich und entlassen mich endlich ins Wochenende?"

Hatte ich zu Beginn noch einen guten Willen bewießen und mich auf ein Gespräch eingelassen, war dieser soeben zu Nichte gemacht worden.

Auf Ms Kanes volle Lippen legte sich ein warmes Lächeln. „Haben Sie ein schönes Wochenende, Ms Callahan. Es würde mich sehr freuen, Sie in baldiger Zukunft noch einmal auf dem Klavier spielen zu hören."

Das war unwahrscheinlich.





Scherbenherz [TxS / GxG]Where stories live. Discover now