F Ü N F

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„Wie oft will dich Ms Kane eigentlich noch bei sich antanzen lassen?", fragte mich Penelope am Montag in der Mittagspause. Wir hatten es uns unter einer alten Eiche auf dem Schulhof gemütlich gemacht. Da die Sonne nach Wochenlanger Absistenz mal wieder zum Vorschein gekommen war, wollten wir das ausnutzen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich fürchte allerdings, nicht so schnell aus der Sache herauszukomen." Ms. Kane war hartnäckig, aber das konnte ich auch sein. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für ein offenes Gespräch. Aber gerade das war der Knackpunkt. Ich wollte nicht reden.

„Ich verstehe es nicht", stieß meine beste Freundin mit einem Seufzen aus. „Ich meine, Cameron  musste nur einmal zu ihr und damit war die Sache gegessen."

„Cam war auch bei Ms. Kane?", kam es mir überrascht über die Lippen. Diese kleine, nicht gerade unbedeutende Information war an mir geradewegs vorbeigegangen. Aber das war vieles seit dem Vorfall mit dem Foto. Also dürfte ich mich eigentlich gar nicht wundern.

Penny verschränkte die Arme hinter dem Nacken und sah mit geschlossenen Augen gen Himmel. „Ich habs auch erst am Freitag im Vorbeigehen aufgeschnappt."

Da ich kein Interesse daran hatte, mir mit einem Gepräch über Cam die gute Laune verderben zu lassen, lenke ich unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema.

Die Mittagspause verlief raßend schnell. Ähnlich verlief es mit dem darauffolgenden Unterricht. Kunst war zugegeben kein Kraftakt, wie manch andere Fächer.

Am Dienstag erreichte uns schließlich die Neuigkeit, dass Ms. Kane krankgeschrieben sei. Tatsächlich hatte sie bereits am Freitag einen erschöpften Eindruck auch mich gemacht. Anscheinend war die nicht nur einer langen Arbeitswoche verschuldet gewesen.

Für mich bedeutete das, dass ich wie all meine Mitschüler nach Hause gehen konnte, ohne noch eine zusätzliche halbe Stunde in der Schule verbringen zu müssen. Zwar tat es mir ein wenig leid, dass es Ms Kane anscheinend nicht besonders gut ging, aber ich war auch froh und erleichtert, dass somit die Gespräche mit ihr ausfielen.

Als Ms Kane auch am Donnerstag nicht zur Englischstunde erschien, ging ich automatisch davon aus, dass sie auch am Tag darauf nicht da sein würde. Das dem nicht so war, wurde mir bewusst, als ich sie auf dem Weg zur letzten Unterrichtsstunde dieser Woche in ihr Büro gehen sah.

So blieb mir auch heute keine Wahl, als nach Schulschluss dazubleiben und im Musiksaal auf sie zu warten. Ms Kane aber kam nicht. Na toll, das wurde ja schon langsam zur Gewohnheit! 

Mein erster Gedanke nach einer viertel Stunde des Wartens war es, einfach zu gehen. Da ich jedoch genau wusste, dass sie heute da war, machte ich mich an Stelle dessen auf den Weg zu ihrem Büro. Ich klopfte vorsichtig an und drückte schließlich die Türklinke herunter, als niemand reagierte. Die Tür schwang geräuschlos auf und zum Vorschein kam Ms Kane, die schlafend in ihrem Schreibtischstuhl saß.

Mein Lehrerin dort zu sehen, die Augen geschlossen, den Kopf schief gelegt, sodass er auf ihrer Schulter ruhte, und die Arme unter der Brust verschränkt, war irgendwie seltsam. Und ich wusste ganz genau weshalb. Ms Kane war in diesem Moment nicht meine Lehrerin, sondern lediglich ein Mensch, dem die Erschöpfung und Müdigkeit sogar im Schlaf anzumerken war. Anscheinend ging es ihr noch immer nicht gut. Warum also hatte sie sich dennoch in die Schule geschleppt?

Ich wandte den Blick von ihrer schlafenden Gestalt ab und blieb dabei an ihrer dunklen Bluse hängen. Besser gesagt an dem, was sich darunter befand, aber normalerweise verborgen blieb. Ihre Bluse musste ihr im Schlaf verrutscht sein, sodass nun ein Teil ihrer Schulter zu sehen war. Etwas unterhalb ihres linken Schlüsselbeins erblickte ich eine kleine Narbe, kaum größer als mein kleiner Finger. Sie konnte noch nicht sehr alt sein, da sie sich deutlich von der  hellen Haut abhob.

Peinlich berührt wandte ich den Blick ab. Immerhin hatte ich sie gerade eben angestarrt! Auch, wenn sie das nicht mitbekommen hatte. Ich hätte sie wecken können, da es jedoch den Anschein machte, dass ihr etwas zusätzlicher Schlaf gut tun würde, ließ ich es. Und ich hätte natürlich ebenfalls etwas davon.

Mit diesem Gedanken schloss ich wieder die Tür. Zeit, nach Hause zu gehen.


Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt