A C H T

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„Wie fühlen Sie sich?", erklang es neben mir, nachdem Cameron den Musiksaal verlassen hatte.

Ich sah langsam zu der blonden Lehrerin herüber, die mich mit ihren hellen, blauen Augen aufmerksam musterte. Wahrscheinlich wollte sie auf diese Weise wieder herausfinden, was mir durch den Kopf ging. Immerhin schien sie ein Talent dafür zu besitzen.

„Sie klingen beinahe wie eine Psychologin", entgegnete ich ihr und lachte amüsiert auf. Nun, nach dem Gespräch, hatte ich das Gefühl, als sei mir eine schwere Last von den Schultern gefallen.

„Ich bin keine, aber meine Frage war dennoch ernst gemeint, Ms Callahan. Wie fühlen Sie sich?", wiederholte sie sich, ohne den Blick von mir zu nehmen.

„Erleichtert", gestand ich, ihren Blick erwidernd. „Haben Sie Cameron eigentlich geglaubt, als er sagte, dass ich ihn geoutet hätte?" Ein klein wenig neugierig war ich dann doch.

„Nicht eine einzige Sekunde." Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, das ich augenblicklich erwiderte. „Zwar können Sie durchaus sehr impulsiv handeln, aber Sie sind nicht die Art Mensch, die anderen Menschen bewusst schadet."

„Was für eine Art Mensch bin ich Ihrer Meinung nach denn?" Obwohl ich dieses Mal nicht auf Konfrontation aus war, konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig herausfordernd klang.

Ein nachdenklicher Ausdruck breitete sich in ihrem Gesicht aus, dann glätteten sich ihre weichen Züge wieder und ein weiteres, beinahe kesses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

„Ich beantworte Ihre Frage, wenn Sie ein Stück auf dem Klavier für mich spielen."

„Das ist Erpressung. Das wissen Sie doch, oder?", entgegnete ich zweifelnd.

„Erpressung wäre es, wenn ich Ihnen drohen würde, Ihnen eine sechs in Musik einzutragen, sollten Sie nicht spielen wollen. Ich jedoch habe Ihnen lediglich ein Angebot unterbreitet, das sie annehmen oder ablehnen können, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen."

Wollte ich überhaupt wissen, für was für eine Person sie mich hielt? Das wollte ich, wie mir bewusst wurde, als meine Beine mich wie von selbst zum Hocker vor dem Klavier trugen.

„Ich spiele. Sie reden", sagte ich über die Schulter hinweg und setzte mich anschließend vor das Klavier. Kurz darauf saß Ms Kane neben mir. Sie war mir derart nah, dass ich ihr blumiges, aber doch unaufdringliches Perfüm riechen konnte. Es roch erstaunlich gut und ich wunderte mich weshalb es mir nicht schon früher aufgefallen war.

„Ms Callahan", beförderte Ms Kanes sanfte Stimme mich wieder ins Hier und Jetzt. „Ist alles in Ordnung?"

Anstatt ihr eine Antwort auf ihre Frage zu geben, sagte ich, dass ich auf eine interessate Antwort hoffte. Dann wandte ich meinen Blick von ihr ab - für eine Sekunde berührten unsere Schultern sich dabei - und dem Klavier zu. Achtsam plazierte ich meine Finger auf die kühlen Tasten und begann, ihnen klangvolle Töne zu entlocken. Sanft und leise erfüllten sie den Raum, während Ms Kane zu sprechen anfing.

„Sie sind die Art von Mensch, die intelligent ist und doch nicht alles aus sich herausholt, weil andere‌ Dinge Ihnen wichtiger erscheinen. Sie lieben das Klavier, aber Aufmerksamkeit damit zu erregen liegt Ihnen fern."

Ich spürte Ms Kanes intensiven Blick auf mir ruhen, was mich dazu veranlasste, eine etwas schnellere Melodie anzuschlagen.

„Sie sind die Art von Mensch", fuhr sie in der selben ruhigen Stimmlage fort, „die mit Freunden lacht und alles um sich herum vergessen kann und in eigenen Gedanken versinkt, sobald sie alleine ist. Außerdem sind Sie die Art von Mensch, die bei anderen Menschen einen selbstbewussten Eindruck hinterlässt, um davon abzulenken, dass in ihrem Inneren eine ungeliebte Verletzlichkeit innewohnt."

Die Töne wurden lauter, noch schneller. Mein Herz passte sich automatisch an - schlug schnell und hart gegen meine Brust. Die Musik erfüllte mich, ließ mich jedes einzelne Wort von Ms Kane wie ein Schwamm aufsaugen.

„Melia, du bist die Art von Mensch, die nun neben mir sitzt, mit Tränen in den Augen, die dir über die Wangen laufen."

Eine warme Hand legte sich plötzlich auf meine Hände und umklammerte sie sanft, aber bestimmend, um sie anschließend vom Klavier wegzuziehen. Die Musik stoppte abrupt und ich landete gewaltsam in der Realität.

„Es tut mir. Ich bin zu weit gegangen, Melia. Das hätte ich nicht sagen dürfen."

Ihre Hände umschlossen meine zitternden Hände ein wenig fester, aber das hinderte meine Tränen nicht daran weiterhin unaufhaltsam über meine Wangen zu laufen. Mein Körper zitterte aufgrund der überwältigenden Gefühle, die mich übermannt hatten. Ich hatte einen Damm in meinem Inneren aufgebaut, der soeben mit voller Gewalt eingebrochen war. Lag es an der Musik? An Ms Kanes Worten? Am Gespräch mit Cameron?

Ms Kanes Nähe war wohltuend und so dachte ich, gefangen in meinen Gefühlen, nicht darüber nach, als ich mich an sie lehnte, den Kopf auf ihre Schulter gelegt.

Ich fühlte die plötzliche Leere, als ihre Hände von meinen verschwanden. Doch nur kurz darauf legte sie einen Arm um meinen Körper, um mich sachte an sich zu ziehen.
Ms Kane sagte kein Wort, war einfach nur da, während ich weinte.

Und im Moment war das alles, was ich brauchte.



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Dieses Mal kommt das nächste Kapitel recht schnell und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Da haben die beiden Frauen sich ein wenig verselbstständigt. ;)

Ein kleiner Vorgeschmack auf das nächste Kapitel:

Wortlos folgte ich ihrer Bitte oder war es doch ein Befehl gewesen? Die Situation verwirrte mich zunehmend. Da saß ich also im Schreibtischstuhl meiner Musiklehrerin und hatte nicht die geringste Ahnung was in diesem Moment durch deren Kopf ging.

LG, Aura

Scherbenherz [TxS / GxG]Where stories live. Discover now