N E U N Z E H N

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Da Evelyn den Vorschlag unterbreitet hatte, durfte sie beginnen. Tatsächlich konnte ich nicht richtig einschätzen wie ihre Fragen ausfallen würden.

„Räumst du eigentlich immer die Wohnungen anderer Menschen auf?" Ihre erste Frage überraschte mich dermaßen, dass ich kurz auflachen musste. Ich hätte mit einer tiefergehenden Frage gerechnet, aber nicht damit.

„Nur wenn diese aussehen, als hätte eine Bombe darin eingeschlagen und ich dringend eine Beschäftigung brauche", antwortete ich und konnte mir ein kleines Grinsen nicht unterdrücken.

Gestern Abend hatte ich das Bett verlassen und da ich jedoch nicht nach Hause gehen wollte, hatte ich Evelyns Chaos beseitigt. Das hatte mir ein wenig geholfen, meine Gedanken zu sortieren. Dass es so unordentlich ausgesehen hatte, hatte mich allerdings ein wenig besorgt, denn eigentlich hatte ich die Vertrauenslehrerin als sehr ordentlichen Menschen kennengelernt.

Über meine Frage musste ich kurz überlegen. In meinem Kopf schwirrten hunderte davon umher, aber nur wenige davon brannten mir auf der Zunge.

„Warum hast du dich gestern betrunken?"

Für einen winzigkleinen Moment huschte ein Schatten über Evelyns helle Augen. Kurz befürchtete ich sogar, sie würde mir nicht antworten, dann tat sie es aber doch.

„Ich dachte fälschlicherweise, ich könnte auf diese Weise wenigstens für eine kurze Zeit vergessen."

„Was vergessen?", kam es mir prompt über die Lippen, doch mein Gegenüber gab mir deutlich zu verstehen, dass sie an der Reihe dran war. Dann würde ich mich wohl oder übel gedulden müssen.

„Weshalb lebst du nicht bei deinen leiblichen Eltern, Melia?", wollte Evelyn mit warmer, sanfter Stimme von mir wissen. Ihr einfühlsamer Blick machte es mir einfacher, ihre Frage zu beantworten.

„Die Frau, die mich zur Welt gebracht hat, hat mich vor einer Feuerwehrwache abgesetzt, als ich vier Jahre alt war."‌ Mir wurde erst bewusst, wie hart meine Worte klingen mussten, als sie bereits ausgesprochen waren.

„Das tut mir leid, Melia. Das hat kein Kind verdient", war Evelyns betroffene Reaktion darauf.

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Natürlich war das scheiße und erst recht, wenn man bedachte welche Folgen die Tat dieser einen Frau nach sich gezogen hatte, aber ich versuchte nicht oft daran zu denken und das half.

„Was hast du versucht durch den Alkohol zu vergessen?", kam ich zu meiner vorherigen Frage zurück.

„Die Ereignisse des letzten Monats und die damit verbundenen Gefühle", war Evelyns kurzangebundene Antwort.

„Das nenne ich mal eine wage Antwort."

„Wir haben nicht ausgemacht, wie ausführlich die Antworten sein müssen." Dieses Mal war sie es, die mich mit einem kleinen schiefen Grinsen bedachte.

„Na gut", seufzte ich. Was sie konnte, konnte ich auch.

„Woher rührt deine Klaustrophobie?", wollte sie wissen. Die gesamte Zeit hatte Evelyn den Augenkontakt aufrecht erhalten, als wolle sie keine meiner Reaktionen verpassen. Mir selbst erging es genauso.

„Daniel Young. Er war mein Pflegebruder, als ich elf war." Bei der Erinnerung an den hochgewachsenen, schlaksigen Jungen, dessen einzige Freude darin bestand, bösartig zu sein, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

„Was genau ist im letzten Monat passiert, dass du sogar in der Schule gefehlt hast?", fragte ich, um nicht länger an ihn denken zu müssen.

Scherbenherz [TxS / GxG]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt