A C H T Z E H N

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Als ich erwachte, lag ich auf einem Sofa und über mir eine Decke, die sich Stunden zuvor noch nicht dort befunden hatte. Eigentlich hatte ich nur für ein paar Minuten die Augen schließen wollen, aber daraus waren dann wohl eher Stunden geworden. Helles frühsommerliches Sonnenlicht durchflutete bereits den Raum, der gestern Abend noch so vor Unordnung gestrotzt hatte.

Das Licht war so hell, dass ich ein paar mal blinzeln musste, um mich daran zu gewönnen. Erst danach registrierte ich, nicht alleine hier zu sein.‌ Evelyn - das Ms Kane konnte ich mir nach gestern Abend endgültig sparen - saß an ihrem Küchentisch, von wo aus sie das ganze‌ Wohnzimmer überblicken konnte.

Und obwohl ein Lächeln ihre Lippen zierte, wirkte sie unendlich müde. Ihr blondes Haar war zu einem lockeren Knoten gebunden, ihre Haut war erschreckend blass und dunkle Ringe lagen unter ihren hellen Augen.

Mir fiel auf, dass sie mein T-Shirt gegen eines aus ihrem Schrank eingetauscht hatte. Ich selbst trug ebenfalls eines von ihr. Nach gestern Abend hatte ich angenommen, mir das Recht herausnehmen zu können, mir eines ihrer Kleidungsstücke auszuleihen. Immerhin konnte ich schlecht nur in BH durch ihre Wohnung spazieren.

Einen langen Moment sah ich sie einfach nur an und dann sagte ich, als wäre es das normalste der Welt:‌ „Guten Morgen." Dabei wussten alle Anwesenden, dass dieser Morgen und alles, was dazu geführt hatte, dass ich nun hier war, alles andere als normal war.

„Guten Morgen, Melia", erwiderte sie und hielt eine Tasse hoch. „Ich habe Kaffee gemacht." Dass nahm ich als Aufforderung auf, meinen sicheren Platz zu verlassen und auf dem Stuhl gegenüber von Evelyn Platz zu nehmen. Gleich darauf drückte sie mir eine Tasse mit der dunklen Flüssigkeit in die Hand.

„Heute mal kein Tee?", fragte ich amüsiert, in der Hoffnung, die Situation ein wenig aufzulockern. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft, die mir gar nicht behagte. Und sowohl Evelyn als auch ich kannten den Grund dafür. Es war nur fraglich wer zuerst den Mut fasste und eben jenen Grund ansprach.

„Ich dachte, heute brauchen wir einmal etwas Stärkeres als Tee", meinte sie mit einem verhaltenen Lächeln. Es war ihr anzusehen, dass sie sich unwohl fühlte. Und dass ich der Grund dafür war, ließ mein schlechtes Gewissen wachsen.

„Wissen deine Eltern darüber Bescheid wo du bist?"

Ich schüttelte den Kopf auf ihre Frage. „Sie glauben, ich bin bei einer Freundin." Karen war bei meinem gestrigen Anruf zwar nicht begeistert gewesen, aber als ich ihr verriet, dass es sich um einen Notfall handelte, bohrte sie nicht weiter nach.

Ich nippte an meinem Kaffee. Er war nicht mehr wirklich heiß, aber dafür umso bitterer. Unwillkürlich musste ich das Gesicht verziehen. Kaffee war nicht nicht gerade mein Lieblingsgetränk.

Mir fiel auf, wie Evelyn das Kinn auf einer Hand abstützte und mich aus ihren blauen Augen nachdenklich musterte.
„Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht erwartet, dich in meiner Wohnung vorzufinden", gestand sie. „Nach dem gestrigen Vorfall hätte ich eher damit gerechnet, dass du nie wieder ein Wort mit mir wechselst und mich vielleicht sogar bis zu deinem Lebensende verfluchst."

Unweigerlich tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Bilder von einer betrunkenden Evelyn, die ihre Lippen auf meine drückte. Bilder von Narben, die die junge Lehrerin bisher gut versteckt hatte.

Ich war innerlich zerrissen. Die Gefühle, die Evelyn in mir ausgelöst hatte, waren mit nichts mir bisher Bekannten zu vergleichen. Und dann war da noch die Angst. Angst, nicht dem gewachsen zu sein, was Evelyn bisher verborgen hatte. Und dann war da natürlich die Neugier. Egal wie sehr ich mich fürchtete, die Neugier, mehr über den Menschen mir gegenüber zu erfahren, war größer.

„Du warst immerhin auch für mich da, als es mir nicht gut ging. Wir sind quasi quitt", erwiderte ich mit einem kleinen‌ Lächeln.

Evelyns Blick wurde ernster, was mich ein wenig verunsicherte. „Das ist nicht zu vergleichen, Melia. Das gestern ... ich weiß nicht wie ich das jemals wieder gut bei dir machen soll."

Der nächste Satz, der mir über die Lippen kam, erforderte meinen gesamten Mut und als er ausgesprochen war, bereute ich es sofort. Immerhin konnte ich keines meiner Worte wieder zurücknehmen.

„Das gestern", begann ich und hielt kurz inne, um einmal tief durchzuatmen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich fühlte, wie meine Hände schwitzig wurden. „Hast du da einfach jemanden gebraucht, an dem du dich abreagieren konntest und zufällig war das nunmal ich oder ...", ich rang um die richtigen Worte, „... das gestern ist passiert, weil ich es war und nicht irgendjemand anderes?"

Vor Anspannung hatte ich die Luft angehalten. Evelyn schwieg, was das Ganze noch unerträglicher machte.

„Egal welche Antwort ich dir geben würde, Melia, es würde keine Rolle spielen." Sie wählte ihre Worte sehr bedacht. Vielleicht wollte sie mich nicht verletzten, aber genau das tat sie mit ihren folgenden Worten.
„Ich war im Begriff, mit dir zu schlafen, weil ich keine Kontrolle mehr über meine Gedanken und Handlungen hatte. Und ich habe nicht vor, es jemals wieder so weit kommen zu lassen. Ich habe dein Vertrauen in mich ausgenutzt, Melia, und das tut mir unendlich leid."

„Ich fühle mich aber nicht ausgenutzt!", stieß ich energisch aus und merkte erst im Nachhinein, dass ich aufgesprungen war. „Hätte ich es gewollt, ich hätte es jederzeit beenden können, aber das hab ich nicht."

„Das macht das alles umso schwieriger", seufze sie, dann stand sie ebenfalls auf, nahm meine Hand in ihre und führte mich zum Sofa. Die plötzliche Berührung brachte mich total aus dem Konzept, sodass ich ihr wortlos folgte.

Ich fürchtete unsere Unterhaltung nahm eine Wendung, die keine von uns wirklich glücklich machen würde. Also tat ich das, was ich am besten konnte. Ich lenkte unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema.

„Warum hast du gestern getrunken?"

Ein paar Sekunden sah mich Evelyn verwirrt an, da die Frage so plötzlich kam, dann schüttelte sie sachte den Kopf. „Es wäre keine besonders gute Idee, dir diese Frage zu beantworten."

„Warum?"

„Du würdest nie wieder deine Lehrerin in mir sehen können", sagte sie, wobei ich glaubte, dass sie selbst den Fehler in ihren Worten bemerkte.

„Nach dem gestrigen Abend kann ich das eh nicht mehr", meinte ich, was auch Evelyn bewusst war. Mir war zwar nicht klar, was genau das zwischen uns war, aber Lehrerin und Schülerin, diese Grenze hatten wir längst überrschritten.

Mein Blick lag aufmerksam auf meinem Gegenüber. Ihre Augenbrauen hoben sich nachdenklich, ehe sie zu mir sah und direkten Augenkontakt aufbaute.
„Frage gegen Frage", sagte sie auf einmal. „Ich bin damit einverstanden, dir deine Fragen zu beantworten, wenn ich dir ebenfalls welche stellen darf."

Über dieses Angebot brauchte ich nicht lange nachzudenken.
„Einverstanden!"



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Im nächsten Kapitel gibt es dann endlich einen kleinen Einblick in Evelyns als auch Melias Vergangenheit :)

LG, Aura

Scherbenherz [TxS / GxG]Where stories live. Discover now