Wien

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Heute ist mein erster freier Tag seit Wochen. Zumindest habe ich einmal vierundzwanzig Stunden am Stück festen Boden unter meinen Füßen. Die Zeit nutze ich und sitze am Tisch eines winzigen Cafés im ersten Wiener Bezirk, ein Stück Sachertorte auf einem Teller vor mir, daneben eine Tasse köstlichen Kaffees. Der österreichische Dialekt der wenigen anderen Gäste dringt sanft zu mir herüber und ich genieße die Tatsache, dass ich so gut wie nichts verstehe.

Seit Fire Island sind zwei Monate vergangen und ich versuche, so selten wie möglich daran zu denken. Vielleicht arbeite ich deshalb so viel.

Livs und Wendys Hochzeit war wunderschön. Beide haben geheult, ich habe geheult und alle anderen Gäste auch. Ich glaube, der Strandabschnitt, an dem der Standesbeamte sie vermählte, sah hinterher aus wie ein Watt, so viele Freudentränen wurden vergossen.

Den Plan, die Tage vor der Hochzeit im Bett zu bleiben, habe ich in der Tat umgesetzt, zumindest soweit, dass ich Livs und Wendys Haus unter keinen Umständen verließ. An einem Tag kam Liv zu mir und erzählte, dass sie Carlo im Supermarkt getroffen habe und er sich nach mir erkundigt hatte, doch ich blockte sofort ab. Meine Freundin sah mich nur mitleidig an, sagte jedoch nichts. Bis auf die Tatsache, dass Milan plötzlich auf der Party aufgetaucht war, wusste sie nichts darüber, was ich gesagt habe und dass von ihm keine Antwort kam und um die Wahrheit zu sagen, gab es darüber auch nicht mehr zu wissen.

Am Sonntag nach der Hochzeit heulten wir alle drei wieder, weil ich mich verabschiedete und Liv versprechen musste, mich regelmäßig zu melden und bald wieder Urlaub zu machen. Vielleicht habe ich bei dem Urlaubsversprechen heimlich meine Finger in meiner Hosentasche überkreuzt.

Und mehr ist seitdem nicht passiert. Ich arbeite quasi ununterbrochen, bin ständig in anderen Städten und habe schon fast den Überblick verloren, wo ich gerade bin. Erst mein Blick auf das tiefbraune Stück Kuchen auf dem Teller vor mir erinnert mich an meinen derzeitigen Aufenthaltsort.
Richtig, ich bin in Wien.

Ich trinke einen weiteren Schluck des fantastischen Kaffees, als sich plötzlich ein Schatten über mich legt. Die Stimme, die ich trotz meiner angestrengten Versuche sie zu vergessen, überall erkennen würde, sagt unerwartet: „Ist hier noch frei?"
Ich atme tief durch und zucke mit den Schultern, bevor ich eine Armbewegung zu dem noch unbesetzten Stuhl an meinem Tisch mache, die besagt ‚Tu dir keinen Zwang an.'.

Milan trägt heute einen beigefarbenen, dünnen Pullover zu einer schwarzen Chinohose, seine Haare natürlich wuschelig wie immer. Ich sehe ihn einfach nur an, kann nicht glauben, dass wir uns allen Ernstes auf einem vierten Kontinent begegnen und vermute inzwischen ein gemeines Komplott des Universums und des Schicksals gegen mich, weil ich mit zwölf mal einen Kettenbrief nicht weitergeleitet habe. Und dabei glaube ich nicht mal an das blöde Schicksal.

Mein Gegenüber scheint sichtlich nervös zu sein, denn seine Hand malträtiert seine Haare, während sein Knie schnell auf und ab wippt.
„Ist der Kaffee gut?", versucht er ein unverfängliches Gespräch zu beginnen.

Der bockige, verletzte Raphael in mir möchte etwas Bissiges erwidern und ihm vielleicht sogar die Torte ins Gesicht schmieren.
Der sentimentale Raphael hingegen erinnert mich an Livs Theorie mit dem Schicksal und daran, dass ich vielleicht auch nicht ganz unschuldig an der derzeitigen Milan-Situation oder ihrem Nicht-Vorhandensein bin. Also reiße ich mich zusammen, stopfe den bockigen Raphael in einen Sack und höre mich sagen: „Der Beste, den man in Wien bekommen kann."

Der Kellner kommt vorbei und fragt in klassischem, österreichischem Schmäh: „Der Herr?"
„Ich hätte gern das Gleiche wie mein Freund hier", sagt Milan höflich und der Kellner verschwindet nickend.
„Freund?", frage ich stirnrunzelnd und blicke mich verwirrt um. Er kann unmöglich mich meinen.

„Hör zu", beginnt Milan und beugt sich etwas vor. „Ich... vielleicht haben wir das Ganze falsch angefangen. Ich hab nicht viel gesagt und dann auch noch gelogen und du hast auch nicht viel gesagt und dann warst du wieder weg..."
„Worauf möchtest du hinaus?", unterbreche ich sein unzusammenhängendes Gestammel.
„Vielleicht sollten wir Freunde sein", fasst Milan zusammen.
„Freunde", wiederhole ich verständnislos.

„Ja", lächelt er. „Ich meine, wir begegnen uns ständig, du hast Chad und die anderen kennengelernt, die praktisch Nachbarn von Liv und Wendy sind, und spätestens dort laufen wir uns ständig über den Weg und da wäre es irgendwie unangenehm, wenn wir uns nur anschweigen."

„Du kennst Liv und Wendy?", hake ich nach.
„Naja, nachdem du die Party fluchtartig verlassen hast, bin ich mit ihnen ins Gespräch gekommen", erklärt Milan verlegen und nimmt dankend den Kaffee und Kuchen vom Kellner entgegen. „Wir schreiben ab und zu und Liv hat mir verraten, dass du gerade in Wien bist und weil ich hier auch einen Auftrag hatte, habe ich–"

Ich hebe die Hand, um ihn zu unterbrechen.
„Auftrag? Was bist du? Geheimagent? Auftragskiller?"
Milan lacht und schüttelt den Kopf.
„Das musste ich Liv auch erst ausreden. Sie schien den Geheimagenten irgendwie zu favorisieren. Aber ich bin nur Fotograf."
„Fotograf?", frage ich verwirrt.
„Reisefotograf. Für Kataloge, Blogs, Webseiten. Die sogenannten ‚Geheimtipps' werden meist von mir fotografiert", erklärt er und zeigt auf die Kamera, die an einem Gurt über seine Schulter hängt.

Erst jetzt erinnere ich mich daran, dass er solch eine auch in Windhoek dabeihatte.
„Wow, da kommst du ja viel rum", stelle ich fest.
„Nicht ganz so viel wie du, aber... ja. Und ich hab gelogen, weil mir die Fragerei nach geheimen Geheimtipps, meinen Auftraggebern und der Herumreiserei mindestens so auf die Nerven geht wie dir", gibt er zu.

„Also lieber kein Wort über die Arbeit", fasse ich zusammen und er zuckt mit den Schultern.
„Eigentlich ist mir das egal", sagt Milan. „Ich fand nur die Vorstellung schön, jemanden zu kennen, der vielleicht öfter mal am gleichen Ort ist wie man selbst. Der versteht, wenn man müde ist vom Reisen, aber es nie aufgeben würde und der auch einfach mal schweigend neben einem einen Kaffee trinken will, bevor es weitergeht und einem keine Vorwürfe macht, wenn man wieder weg muss."

„Also... Freunde", murmele ich und versuche, das Wort in meinem Mund zu schmecken.
„Alles andere endet nicht gut", sagt Milan leise und sticht mit der Kuchengabel in den schokoladigen Teig des Kuchenstücks, welches der Kellner zwischenzeitlich diskret vor ihm abgestellt hat.„Hast du selbst gesagt."

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