20. September, 10:14 Uhr: Iris

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„Es ist verdammt nochmal zehn Uhr fünfzehn, Iris!" Rena sprach mich an der Eingangstür von Million Year Picnic an und tippte auf ihre Spiderman-Armbanduhr. „Die Kinder warten schon seit ... Ach du meine Güte!" Sie umklammerte mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und suchte meine Augen. „Bist du okay? Du siehst furchtbar aus! Hast du dich irgendwann am Wochenende ausgeruht?" Sie rümpfte die Nase. „Hast du überhaupt geduscht? Und sind das... weiße Schokoladenflecken?" Rena gestikulierte in Richtung meines Mundes. „Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach zu mir kommst und bei mir wohnst-"

„Ich bin okay. Es ist alles in Ordnung." hörte ich mich sagen, als ich meine beste Freundin unterbrach und mich aus ihrer Ich-erdrücke-dich-Umarmung befreite.

„Sorry. Der Verkehr. Nur ... Toilette!" Ich stieß alles in einem Atemzug aus und stieß Rena von mir.

Ich rauschte die klapprige Treppe hinauf und stürmte geradewegs in die erste Kundentoilette.

Keramische Pissoirs und ein grässlicher Pinkelgestank verrieten mir, dass es sich tatsächlich um die Herrentoilette handelte.

Igitt!

Wenigstens war sie vorübergehend leer.

Niemanns-Land.

Alles, was ich brauchte, war ein Moment allein mit meinen Gedanken.

Der ziellose zehnminütige Spaziergang, den ich nach dem Auftauchen aus dem unterirdischen Abgrund unternommen hatte, war nicht hilfreich gewesen.

Durch die Straßen zu schlendern und von unbekannten Passanten umgeben zu sein, hatte mich gezwungen, mich zu sammeln, anstatt alles rauszulassen.

Schlechter Tag?

Langsam, einmal tief durchatmen!

Aus voller Kehle schreien, bis alle denken, man sei verrückt?

Das wollte ich so gerne tun.

Aber ich konnte nicht.

Heute ging es nicht um mich.

Heute ging es um den Laden.

Auch wenn es langsam aufwärts ging, brauchten wir mehr Märchenstunden, um all unsere Schulden zu begleichen.

Das war für Rena. Für uns beide.

„Geschichten... erzählen?" Ich hörte fast, wie Rena schluchzte, während sich kleine Rädchen der Vergangenheit in meinem Kopf drehten.

„Ja! Warum nicht? Genau hier! In der ersten Etage!" Ich tanzte die klapprige Holztreppe hinauf. „Ich meine, kannst du es dir nicht vorstellen? Hier legen wir die kleinen bunten Kissen hin." Ich zeigte auf das kahle Parkett. „Ich könnte ihnen Geschichten vorlesen, entweder aus Kinderbüchern oder noch besser, aus unseren Comics! Und das Eintrittsgeld wäre symbolisch!"

Das alles war meine Idee gewesen.

Eine gute Idee, geboren aus der Begegnung mit dem Regenmann.

Es musste in diesem Moment so viele süße kleine Hintern geben, die diese bunten Kissen schmückten.

Sie alle warteten auf mich.

Die leisen, dröhnenden Stimmen flüsterten wahrscheinlich von hinter der Tür: „Wo ist die Märchenerzählerin? Sind wir pünktlich da?"

Ihre süßen kleinen Herzen, die bei meinen Worten zu lächeln beginnen würden.

Meine Mundwinkel hoben sich fast unwillkürlich.

Grinsend schaute Iris aus dem Spiegel zu mir zurück.

Und jetzt war es an der Zeit für die glückstrahlende Iris, sich aus dem Staub zu machen, bevor ich die fabelhafte Gelegenheit bekam, ein besonders interessantes Pissoir-Gespräch zwischen Männern zu belauschen.

Der Letzte Zug | The Wattys2023 Winner ✔️Where stories live. Discover now