Der erste Schnee

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@00elem00

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@00elem00

Jedes Jahr, wenn die ersten zarten Flocken vom Himmel fallen und die Welt weiß färben, verschwindet ein Mensch aus Winterweiler. Sobald der Sommer dem Herbst die Hand reicht und von dannen zieht, die Temperaturen mit jedem Tag weiter fallen und die Nächte den Tagen die Zeit rauben, kommt die Angst.

Die Menschen aus Winterweiler, sonst immerzu herzlich und fröhlich, werden mit einem Mal unfreundlich und misstrauisch. Mit den immer kälter werdenden Tagen verwandelt sich der Nachbar, mit dem sie zuvor geplaudert haben, in ein Wesen mit zwei Gesichtern.

Dunkel werden die Tage und dunkel werden die Gemüter der Menschen. Die Vorboten des Winters.

Ich erinnere mich, dass es schon immer so war. Bereits lange vor meiner Zeit. Selbst meine Urgroßmutter erzählte mir schon von dem heimtückischen Winter, der jedes Jahr mit dem ersten Schnee heranrückt und sich einen Menschen stiehlt. Diese Menschen werden nie wieder gesehen. Keiner weiß, was mit ihnen geschah, wohin sie verschwanden und was ihnen zugestoßen war.

Als Kind hielt ich das stets für ein Märchen. Eine Geschichte, um uns Kindern Angst einzujagen, damit wir bloß bei Sonnenuntergang wieder Zuhause vor dem heimischen Kaminfeuer saßen und in der kalten Zeit nur herausgingen, wenn unbedingt notwendig. Denn Winterweiler ist ein abgelegenes Dorf und die kalte Jahreszeit rau.

Doch als die Jahre, in einem Wechselspiel aus Farben, an mir vorbeizogen, begriff ich, dass in jedem Märchen ein Fünkchen Wahrheit steckt. Es begann mit dem plötzlichen Verschwinden der alten Ilsa. Ein wohlbekanntes Gesicht in Winterweiler. Seit dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren lebte sie allein in ihrem gemütlichen Haus aus Holz. Sie war eine gesellige Frau. Stets stand ihre Tür offen und für jeden Besuch, mochte er noch so spontan sein, hatte sie eine heiße Tasse Tee bereitstehen.

Bis ihre Tür eines Tages nicht mehr offen stand. Der Winter kam mit der Nacht. Hatte sich unbemerkt nach Winterweiler geschlichen, während die Leute tief und fest in ihren Betten schliefen. In dieser Nacht vor elf Jahren nahm er sich Ilsa.

Am darauffolgenden Tag blieb Ilsas Tür geschlossen. Das Haus still. Und doch konnte man, wenn man durch das Fenster spähte, noch immer die letzten Flämmchen im Kamin glimmen sehen. Niemals hätte die alte Frau das Feuer brennen lassen. Und wohin sollte eine alte Frau auch in Schnee und Dunkelheit so plötzlich gehen? Egal, wie ich es drehte und wendete, es ergab keinen Sinn.

Ich war zehn, als ich zu verstehen begann, dass manche Geschichten eben nicht bloß Geschichten sind, dass sie einen wahren Kern besitzen.

Ich war zehn, als ich begann, den ersten Schnee zu fürchten.

Auch heute beobachte ich mit Sorge das Wetter. Die Sonne ist heute kaum zu sehen. Dichte, graue Wolken versperren ihr die Sicht auf die Erde. Seit jeher wirken sie auf mich wie die Wächter des Winters, die sein baldiges Kommen ankündigen und jegliche Einmischung verhindern wollen.

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