Last Winter - Versprengte Hoffnungen

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Jen3er

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Jen3er

Der Winter brach an, und mit ihm kam auch bald der erste Schneefall. An den Eichen, Erlen, Buchen und Weiden hing gefrorener Schnee in zarten, fantastischen Gebilden, und auf den Seen und Bächen knisterte im Frost das klare Eis.

Im Sommer wäre der Wasserfall in den See geplätschert und hätte funkelnde Wassertropfen in der Luft verteilt, in denen sich das Licht brach. Doch nun war der Wasserfall gefroren und der See von einer dünnen Eisschicht überdeckt.

Es war eine sternenklare Nacht, und Clara wusste, dass dies der Moment war, auf den sie ein ganzes Jahr gewartet hatte. Durch das Ereignis der letzten Weihnacht war ihr Bewusstsein in diesem Jahr so sehr erweitert, dass sie Kleinigkeiten, winzige Gesten verschiedener Menschen, wahrnahm, die ihr nie zuvor aufgefallen waren. Es war das freudige Glucksen eines Kindes, das einen Tannenzweig streifte und den auf ihm verweilenden Schnee zu Boden rieseln ließ, das herzhafte Lachen eines Vaters, der seinen Söhnen Schneebälle entgegenwarf, das leise Summen einer Mutter, die mit ihren Kindern Lichterketten im Garten an die kahlen Äste hing oder aber der feste und vertraute Händedruck verschiedener Menschen, die sie im Laufe der Zeit kennengelernt hatte. Clara erlebte eine Vorweihnachtszeit, die sie bisher noch nie erleben durfte.

Eine frohe, festliche Erregung ging durch das Dorf, in dem sie lebte. Die Menschen schienen wie ausgewechselt, nahmen sich plötzlich Zeit für die Familie, für die Freunde und Mitmenschen. Außerdem widmeten sie sich den Besorgungen zu Weihnachten und all den Kleinigkeiten, die das bevorstehende Fest bereithielt, schenkten Nächstenliebe. Mitgerissen vom Strom der Festlichkeiten und den anregenden Gerüchen nach Zimt und Vanille trieb das ganze Dorf in einem Fluss von Besinnung, Vorfreude, Glück und Liebe, und niemand sträubte sich dagegen.

So kam es, dass Clara diese Zeit trotz der Einsamkeit in vollen Zügen genoss und am Glück und der Vorfreude der Dorfbewohner um sie herum so intensiv teilnahm, dass es ihr in manchen Momenten vorkam, als würde sich all das um sie drehen. Sie wusste, es war nicht ihr eigenes Glück, und trotzdem fühlte sie all die Emotionen der Menschen und nahm sie in sich auf. Ihr Herz füllte sich mit Liebe, denn tief in ihr drin wusste sie, dass es ihre Aufgabe war, mit all diesen Menschen um sie herum die Vorweihnachtszeit zu feiern, sie mit Ekstase zu begrüßen und ganz in ihrem Trubel verloren zu gehen.

Schweigend kniete sie sich jetzt an den Rand der Eisfläche, wischte mit den behandschuhten Fingern den Schnee von der glatten Eisschicht und dachte an Gabriel. So intensiv sie konnte, schickte sie ihre Gedanken auf die Reise und spürte schließlich, dass auch er an sie dachte. Genau wie sie sah er das Leuchten der unzähligen Lichtpunkte am Himmel, und wenn sie durch die Eisschicht sah, konnte er in ihre Augen blicken, wie sie in seine sehen konnte.

In diesem Moment erinnerte sie sich daran, wie er im letzten Jahr neben ihr gestanden, ihre Hand genommen und gesagt hatte: „Manchmal denke ich, ich müsste im Winter mit der Natur zugrunde gehen und ihr zeigen, dass ich zu ihr gehöre wie sie zu mir."

Anthologie im WinterWhere stories live. Discover now