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Der restliche Tag verstreicht ohne weitere Vorkommnisse. Am Abend fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof. Von dort geht es zu Fuß weiter. Vielleicht einen Kilometer.
Vor dem Gebäude haben sich schon Katrin und Klara eingefunden. Kurz darauf trifft auch Yvonne ein.

»Welche Bahn hast du reserviert?«
Krass, der laden ist brechend voll. An den Tischen fuchteln sie mit den Stöcken herum, um die Kugeln in die Löcher zu verfrachten. Im Speisebereich lassen es sich die Gäste schmecken. Hier kann man wirklich gut essen.
»Die Neun gehört uns.«
Wir besorgen uns Schuhe von dem jungen Mann an der Kasse. Er rechnet alles vorab ab.

»Bevor wir anfangen, habe ich eine traurige Nachricht zu verkünden«, sagt Yvonne. Sie ähnelt einem Marktschreier aus dem Mittelalter. »Leider wird es aus dem Konzert morgen nichts, es ist irgendetwas schief gelaufen.«
Die Stimmung ist für etwa eine Minute auf dem Boden gelandet und weint. Ja, enttäuscht bin ich auch, aber was will man machen?
»Nein, natürlich nicht, ich weiß, schlechter Scherz.«
Mit zerknirschter Miene gibt sie uns die Karten. Auch ihr Humor ist echt schlimm. Die erste Kugel, die ich über die Bahn schiebe, trifft nichts, meine Freundinnen lachen sich ins Fäustchen. Sollen sie es besser machen. Katrin verfehlt ebenfalls. Yvonne erwischt die Kegel, eine dreht sich um die eigene Achse und ist kurz davor umzukippen, bleibt dann doch stehen. Wir stöhnen auf, auch sie schnippt mit schmalem Mund.

Später.
»Die Westbrook hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sage ich angeheitert. Es liegt am Bier. »Es ist ihr Verhalten, wenn ich es nicht besser wüsste, ist sie dauerhaft angefressen.«
Ich berichte ihnen vom Vorfall im Sportunterricht.
»Vielleicht ist sie einfach nur ein Drache.«
Meine beste Freundin zuckt mit den Schultern.
»Die Frau gehört zum Militär und in keine Schule«, gebe ich zurück und leere die Flasche in einem Zug. Ich will ein weiteres bestellen, aber die Truppe hält mich davon ab. Eine bodenlose Frechheit. Torkelnd nehme ich eine Kugel und nehme Anlauf. Ich stolpere über die eigenen Füße und schlage auf.

***

Wo bin ich?
Es ist viel zu grell.
»Na du Schnapsdrossel, raus aus den Federn.«
Es ist Yvonne. Ich drehe mich um. Die Couch ist so schön kuschelig, ich will weiterschlafen. Sie zieht die Decke weg.
»Lass das«, jammere ich. Ich bin in der Wohnung ihrer Eltern. Unwillkürlich setze ich mich auf. Ihr Vater betrachtet mich über den Rand der Zeitung.
»Guten Tag.«
Ich stammele: »Hallo.«
Mir ist das so peinlich. Ihre Mutter stellt mir eine Tasse hin.
»Danke.«
Kaffee.
»Da wir heute zu Hause verbringen, wie wäre es, wenn wir etwas anderes unternehmen.«
Yvonne führt mich in ihr Zimmer.
»Was denn zum Beispiel?«
Sie macht sich vor dem Schreibtisch breit, ich setze mich auf die Bettkante.
»Vielleicht können wir ...«
Ihre Stirn liegt in Falten.
»Kino?«
»Nee, überhaupt keine Lust«, antworte ich. Mit drohendem Zeigefinger zeigt sie auf mich.
»Wehe du willst auf der Gitarre spielen, du bist gut genug, besser als wir alle zusammen.«

***

Ich trage einen Badeanzug. Yvonne kommt vom Kiosk zurück. Sie bringt die Pommes. Natürlich mit Ketchup, der darf selbstverständlich nicht fehlen. Das städtische Schwimmbad ist gut besucht. Na klar, schließlich ist der Sommer längst nicht vorbei.
»Keine Mayonnaise mehr«, sagt sie mit zuckenden Schultern. Schade, na ja, damit muss ich wohl leben.

»Ich habe Katrin und Klara angerufen, sie haben leider keine Zeit.«
Ich packe das Smartphone weg und nehme die Tüte entgegen. Während wir essen, unterhalten wir uns über alles, was uns eben einfällt.
»Hast du schon mit einem der Aufsätze begonnen?«, informiert sie sich schließlich. Ich erzähle ihr, dass ich es versucht habe, aber noch nichts auf die Beine gestellt habe. Sie ist ähnlich weit. So plätschert der Tag dahin. Im Wasser sind wir auch noch gewesen. Am Abend fährt sie mich nach Hause. Mama helfe ich mit dem Abendbrot. Der Sonntag wird mit Nichtstun verbracht. Ich sehe etwas in die Glotze und spiele Gitarre. Am Nachmittag gehe ich zu Großvater.

***

Am Montag steht Physik an. Viel zu merken und noch mehr Hausaufgaben. In Mathematik schaut es nicht besser aus. Ich verstehe nur die Hälfte. Danach steht Englisch auf dem Plan. Es läuft besser. Frau Engel hat Gnade und verteilt die Hausaufgaben. Erst am Freitag müssen wir den Rest vorlegen. Die letzte Stunde wartet Frau Westbrook auf Yvonne und mich. Sie knallt die Türe zu, sodass ich zusammenzucke.
»Dann wollen wir mal.«
Sie klingt angefressen, wann ist sie das nicht?
Aus der Tasche holt sie unsere Hefte heraus und verteilt sie. Zu jedem gibt es die Note und einen Kommentar. Als sie bei mir angekommen ist, funkelt sie mich an, ihre Augen wirken eiskalt. Wie wird man so?
»Du hast eine Fünf bekommen, du Jammerlappen.«
Sie hat es gelesen, klar, da stecken meine Gefühle drin und dennoch lässt sie sich dann zu so einer Aussage hinreißen?
Ich habe genug und packe meine Sachen zusammen.
»Frau Westbrook, dies war unangebracht, wir sind im Deutschunterricht, nicht in der Kaserne. Wenn sie sich wieder gefangen haben, bin ich bereit ihrem Unterricht weiterhin beizuwohnen, bis dahin, finden Sie mich zu Hause.«
Mit Wut bepackt stehe ich auf und steuere die Tür an.
»Du setzt dich sofort wieder hin«, faucht sie mir hinterher. Ich denke ja überhaupt nicht daran.
»Ja, wenn Sie sich daran erinnert haben, dass sie eine Lehrerin sind, haben sie verstanden?«
Ich gehe hinaus. Was glaubt sie, wer sie ist? Einige Meter im Flur zurückgelegt, werde ich plötzlich an der Schulter gepackt.
»Emma, ich bitte dich um Verzeihung, ich habe in letzter Zeit viel um die Ohren.«
Frau Westbrook sieht mir direkt in die Augen. Hat sie geweint?
Anscheinend.
»Der Umzug war stressig und dazu die Scheidung.«
Ich bin noch immer geladen.
»Verzeih mir bitte.«
Ich stecke die Faust in die Hosentasche und atme tief durch.
»Es tut mir so leid.«
Dann vergräbt sie das Gesicht in den Händen und beginnt zu schluchzen. Ohne darüber nachzudenken, ziehe ich sie zu mir. Ihr Körper zittert und ehe ich mich versehe, heult sie in meine Schulter. Was passiert hier nur?
Nach vielleicht fünfzehn Sekunden drückt sie mich von sich. Mit dem Handrücken wischt sie über die Augen.
»Möchten Sie darüber sprechen?«
Nachdem ich den Satz gesagt habe, möchte ich mir auch schon auf die Zunge beißen.
»Danke, aber ich glaube, das ist keine gute Idee.«
Habe ich es mir gedacht. Emma, du bist aber auch dämlich, sie hat bestimmt einen Freundeskreis. Ich bin ihre Schülerin und sie meine Lehrerin.
»Ja, Sie haben Recht«, gebe ich mit dünner Stimme von mir. Leise räuspert sie sich und sagt dann: »Tu mir einen Gefallen, geh zurück in die Klasse, ich bin gleich wieder zurück.«
Als ich wieder am Tisch sitze, wirft mir Yvonne einen fragenden Blick zu. Ich schüttele den Kopf. Nach ungefähr zehn Minuten ist auch Frau Westbrook wieder zurück.
»Emma und ich haben uns unterhalten«, lügt sie. »Mein Verhalten ist umöglich gewesen, könnt ihr mir verzeihen?«
Es ist still in der Klasse. Dann meldet sich Bernd: »Jeder hat mal schlechte Tage, bitte versprechen Sie uns, dass es nicht zur Gewohnheit wird.«
»Versprochen«, sagt sie letztendlich.

Der Unterricht war dann doch angenehm. Meine Freundinnen und ich folgen dem Gang, der zum Ausgang führt.
»Was habt ihr besprochen?«, fragt Yvonne neugierig. Natürlich hat sie den Vorfall den anderen lang und breit berichtet.
»Im Grunde hat sie sich bei mir entschuldigt, das war es auch schon.«
Wir entscheiden spontan, ins Kino zu gehen. Der Film handelt von ...
Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Ständig schwirrt mir Frau Westbrook im Kopf herum. Was hat sie gesagt?
Sie hat sich scheiden lassen. Eine Explosion auf der Leinwand blendet mich. Auch zu Hause denke ich an sie.

***

Der Samstag ist angebrochen.
Mit Kaffee genieße ich den Sonnenaufgang. Ein Balkon ist schon fein. Vor allem mit Sonnenbrille. Auf der kleinen Kommode steht ein Radio, aus dem Musik dudelt.
»Guten Morgen, mein Schatz.«
Mama steckt in einem Bademantel. Ziemlich knapp, gleich muss sie in den Laden.
»Morgen.«
Sie lässt sich zu mir auf die Bank nieder.
»Bei so einem Wetter habe ich überhaupt keine Lust zu arbeiten«, lässt sie mich an ihrer Faulheit teilhaben. So ist sie doch sonst nicht, sie liebt ihren Job. Wer kann es ihr aber verübeln, bei diesem Kaiserwetter. Ihren Früchtetee kann man vermutlich noch kilometerweit riechen. Sehr intensiv.
»Sehen wir uns heute noch?«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich und erinnere sie an das Konzert. Sie hat sich ein Regal bestellt, es soll heute geliefert werden. Kein Problem, ich werde ihr beim Aufbau am Sonntag helfen. Den Vormittag verbringe mit Zeichentrickfilmen aus den 80ern. Ranger im Kosmos sorgen für Gerechtigkeit. Gefällt mir. Die zeichenweise ist auch nicht schlecht. Im Anschluss stapfen große Roboter über den Bildschirm. Sie sind auf der Erde gestrandet, dort bekämpfen sie Bösewichte, die ebenfalls Maschinen sind. In den Städten richten sie regelmäßig Chaos an, das Militär ist zum Zuschauer verdammt. Keine menschliche Waffe ist stark genug, doch die freundliche Seite arbeitet mit ihnen zusammen. Zum Mittag mache ich eine Kleinigkeit. Ja, es ist aus der Dose und ich habe es geschafft, es ist nicht angebrannt. Stolz sitze ich auf der Couch und verspeise die Nudeln in Tomatensoße.


Blue change | [girlxgirl]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt