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Am Nachmittag verdresche ich virtuelle Figuren an der Konsole. Einfach zum Zeitvertreib, ab und zu hat sich die Rasselbande gemeldet und abgeklärt, wann und wo wir uns treffen wollen. Die Bahn ist die erste Wahl. Um neunzehn Uhr fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof. Also in zwei Stunden. Die Klamotten liegen bereits auf dem Bett. Nach zehn Minuten wechsele ich auf eine Videoplattform. Ein Konzert von Julliete Bay an. Sie trägt eine goldene Rüstung, selbstverständlich aus Kunststoff, sie wirkt aber täuschend echt. Erinnert an den Androiden aus dem berühmten Film aus den 20er Jahren. Ich frage mich, wie sie es mit ihrem Gesicht hinbekommen haben. Wird es projiziert? Die Lippen bewegen sich in der Maske und die Augen leuchten gelblich. Oh, ich darf nicht die Zeit verbummeln, ab in mein Zimmer.

***

»An der nächsten Haltestelle müssen wir raus«, erklärt Yvonne und sieht abermals auf ihre Armbanduhr. »Hoffentlich schaffen wir das noch.«
Sie hasst es, zu spät zu kommen, sprich, sie will den Einlass nicht verpassen. Da kann ich ihr nur beipflichten. Wir wollen die Show nahe an der Bühne erleben. Keine zwei Minuten später hält die U-Bahn an und die Türen öffnen sich mit diesem charakteristischen Warnton. Mit anderen Fahrgästen geht es zu den Rolltreppen und mit ihnen aus dem Untergrund. Nun die Strecke mit dem Bus überbrückt. Kurz vor zwanzig Uhr ist die Halle erreicht. Sie dient üblicherweise als Austragungsort für das heimische Basketballteam. Ich glaube, als Kind war ich das letzte Mal hier, mit Papa, damals hatte das Team noch keinen Sponsor. Die Eingangshalle ist mit Gleichgesinnten gefüllt. Alle Altersgruppen sind vertreten.
»Müsst ihr noch mal für kleine Mädchen?«, fragt Katrin in die Runde. Der Rest von uns schüttelt den Kopf.

»Seht, die Türen werden geöffnet.«
Mit den Massen strömen wir hinein und ergattern gute Stehplätze, so im Mittelfeld. Die Bühne ist in Finsternis getaucht und nach einer unbestimmten Zeitspanne wird auch der Rest der Halle in Dunkelheit getaucht. Dumpfe Klänge sorgen für Gänsehaut. Fast schon unheimlich. Plötzlich schweben Hologramme über die Bühne, sie werden durch den Hintergrund unterstützt, ähnlich einer futuristischen Stadt. Die Show heißt: Future and past. Sie ähnelt der, die ich vorhin im Fernseher gesehen habe. Offensichtlich beginnt es mit Electric Love. Ein sehr guter Song, er geht ins Ohr. Die Menge ist eine aufgeregte Masse, sie können es kaum noch erwarten. So nach einer Minute baut sich eine Seitengasse auf, so richtig dreckig, unglaublich, was mit der Projektionstechnik heutzutage möglich ist. Eine schwarze Katze den Bürgersteig entlang, gefolgt von Klavierklängen, sie sind so falsch, wie sie nur sein können. Die Metalltür im Hintergrund, mit ihr passiert etwas, langsam aber sicher beginnt sie zu glühen. Blasen entstehen, hervorgerufen durch die Hitze. Die graue Farbe hält ihr nicht stand. Eine Explosion schleudert letztendlich hinfort. Der kurze, aber grelle Blitz blendet uns und plötzlich steht sie in der Szenerie. Sie steckt in einer Weiterentwicklung des roboterartigen Anzuges. Dieser wirkt noch bedrohlicher. Bewegungslos blickt sie herab. Plötzlich springt ein Mikrofon vor ihr in die Luft. Mit der rechten Hand fängt sie es und der Song beginnt.

»Das Konzert war einfach ... ich finde nicht mal die passenden Worte«, schwärmt Katrin. Yvonne, Klara und ich sind auch geplättet.
»Habt ihr das Hologramm vom Korallenriff gesehen?«
Definitiv! Beinahe unterschlagen.
»Ihre Stimme hat sie ebenfalls ausgearbeitet.«
Ja, richtig.
»Zwei neue Lieder hat sie eingebaut«, werfe ich ein. Stimmt. Endless way und High ground sind bisher nirgendwo aufgetaucht. Sie sind echt gelungen.
»Die will ich auf dem Smartphone haben, unbedingt.«
Wir klingen euphorisch. In der U-Bahn ist sie das Gesprächsthema. Ein tolles Konzert. Von der Konstablerwache geht es zum Bahnhof und von dort wieder zurück in die Heimatstadt. Kurz vor zweiundzwanzig Uhr trete ich in die Wohnung. Ich schließe die Tür ab und trete weiter in den Flur. In der Wohnstube läuft der Fernseher. Mama ist vor ihm eingeschlafen. Ich will sie nicht wecken, also schalte ich das Gerät ab und gehe ins Zimmer. Auf dem Handy läuft ein Mitschnitt des aktuellen Konzerts. Damit schlafe ich ein.

***

Einige Tage vergehen ereignislos.

Mit Mama und Paul besuche ich im Nachbarstädtchen ein Weinfest. Ich sitze in einer Gondel und genieße die Aussicht. Das Riesenrad stoppt für einige Minuten, um weitere Gäste aufzunehmen. Paul und Mama sind an einem Süßigkeitenstand. Von hier oben ist es eine Leichtigkeit sie auszumachen. Sie geraten in den Hintergrund, da sich Frau Westbrook in den Vordergrund schleicht. Was ist nur los mit mir? Das Rad rotiert wieder in Bewegung, unten angekommen, öffnet ein Mitarbeiter die Tür und ich steige aus.

»Ist was passiert?«, fragt Mama. »Du bist gar nicht richtig hier. Hast du etwas angestellt?«
Sie haben sich Schokoküsse besorgt.
»Nein, mitnichten, ich habe auch keine Ahnung.«
Mama weiß, dass ich die Wahrheit sage, ich habe sie in dieser Beziehung noch nie belogen.
»Vielleicht ist sie ja verliebt«, schaltet sich Paul ein. Sein geheimnisvoller Blick ist nicht von der Hand zu weisen. So ein Quatsch.
»Meinst du?«, erwidert Mama. Ich sage mit Inbrunst: »Ich kann euch hören.«
Die sind doch verrückt geworden. Oder liegen sie richtig?
Nein, vollkommen unmöglich. Ein kleines Kind rempelt mich am Ellbogen an und die Süßigkeit landet in meinem Gesicht. Es wird von Gelächter begleitet. Ganz witzig.

Es ist kurz vor 22:00 Uhr.
»Du kommst später nach?«
Mama wirkt ängstlich. Sie muss sich doch keine Sorgen machen, ich bin doch schon erwachsen.
»Ja, ich bleibe noch hier«, gebe ich ihnen zu verstehen. Paul zieht sie mit sich und rasch sind sie in der Menge verschwunden. Ich flaniere zum Autoskooter. Die coolen Typen, beziehungsweise, die sich dafür halten, lassen den großen Macker heraushängen. Ich besorge mir etwas zum Essen. Das Steakbrötchen schmeckt echt gut. An einem Stehtisch verzehre ich es.
»Hallo, wie geht es?«
Die Stimme kenne ich doch. Ich hebe den Kopf. Frau Westbrook lächelt breit. Sie ist in Begleitung eines jungen Mannes.

»Hi.«
Ich schiebe das letzte Stück in den Mund und kaue entspannt.
»Einen schönen Abend wünsche ich noch, wir sehen uns am Montag.«
Sie verschwinden hinter einem Schießstand. Ich habe ihr hinterher gesehen. Blindlings möchte ich ihr folgen, bleibe aber wie festgewachsen stehen. Was ist das nur?
Ich trete den Rückweg an, mit verwirrenden Gedanken.

Als ich nach Hause komme, sitzt Mama vor dem Fernseher. Na ja, eher schläft sie. Ich will sie nicht wecken, deshalb schalte ich den Kasten ab und gehe ins Zimmer, davor bin ich noch unter die Dusche gesprungen. Über die Kopfhörer lausche ich einem Hörbuch. Der Protagonist ist nach Amerika geflogen, um dort seine Schwester zu besuchen. Es wird sich viel verändern, laut dem Klappentext.

Der Sonntag ist verregnet. Dicke Wolken verlieren ihren Inhalt. Es ist ein waschechtes Sommergewitter. Blitze zucken über den grauen Himmel. Kurz darauf ist der Donner zu hören. Ich habe eben mit Opa telefoniert, unser Treffen fällt heute aus, er trifft sich heute mit alten Freunden. Ich sitze auf dem Bett und habe die Gitarre auf dem Schoß. Irgendwie ziehe ich gedankenverloren an den Saiten. Abermals donnert es. Es ist schon einige Kilometer entfernt, allmählich nimmt das Rauschen ab. Mama klopft an die Tür und tritt dann ein.
»Hilf mir bitte mit dem Mittagessen.«
Ich platziere das Instrument im Ständer und folge ihr in die Küche. Während sie im Topf rührt, schäle ich die Kartoffeln.
»Wie findest du es, wenn uns Paul nach Schweden begleitet?«
Ich sehe da überhaupt kein Problem.
»Klar«, antworte ich. Sowieso werde ich die meiste Zeit für mich bleiben. Also ist es in Ordnung. Nachdem ich fertig bin, wasche ich mir die Hände. Erneut ist da Frau Westbrook. Habe ich nicht mehr alle Tassen im Schrank?
Ich schüttele sie ab.


Blue change | [girlxgirl]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt