Kapitel 12

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Vìn wusste nicht, wer von ihnen überraschter war, dass sie Kostyas Schwäche nicht ausnutzen würde. Für einige Wimpernschläge musterten sie sich nur gegenseitig, als warteten sie auf eine Reaktion des anderen.
Dann deutete sie mit dem Kinn auf seine Wunde.
»Das musst du versorgen.«
Seine Lippen öffneten sich, doch er brachte keinen Ton heraus. Mit verengten Augen beobachtete sie, wie er deutlich schluckte und erneut ansetzte. »Ich weiß nicht, wie.«
Verblüfft starrte sie ihn an. »Wie ist das denn möglich?«
»Es war nie nötig für mich.« Sein Unterton wurde verteidigend, als er ihre hochgezogene Braue bemerkte. »Komm schon, Wölfchen, als sei das so überraschend. Du glaubst nicht an die Alte Magie, ich kann eben keine Wunden versorgen.«
»Nur dass der Glaube an die Magie dir nicht das Leben retten wird.«
»Was habe ich doch für ein Pech.«

Frustriert schnalzte sie mit der Zunge und fuhr sich mit einer Hand durch ihre Strähnen, die ihr verschwitzt in der Stirn klebten.
»Zieh' dich aus.«
»Was?«
Sie wiederholte sich nicht, und im nächsten Moment erschien ein Grinsen auf Kostyas Gesicht. »Ich wusste ja, dass ich unwiderstehlich bin, aber-«
Er stockte, als sie ungeduldig an seiner Tunika zerrte, und atmete scharf ein. Er hätte es wohl niemals zugegeben, doch sein verletzter Arm ließ es nicht zu, dass er sich allein von seiner Kleidung befreite. Vìn musste ihm die Tunika vorsichtig über die Schulter heben.

»Ich werde erfrieren, bevor du erst den Blutfluss gestoppt hast«, knurrte er missmutig. Sein bloßer Oberkörper zitterte unter einem Schauer. Von seiner Wunde aus lief ein stetiges Rinnsal seine Brust hinab. Der Wolf hatte ihn genau dort erwischt, wo das Leder seiner Reisekleidung dünn war, an der Stelle, wo der Hals in die Schulter überging. Ihr Blick wanderte unwillkürlich zu dem Bluterguss an seinen Rippen. Dort hatte sie ihn bei ihrem Übungskampf getroffen. Überrascht erkannte sie, dass seine Haut auch an weiteren Stellen von Narben unterbrochen war. Die meisten waren bereits verblasst, aber einige mussten von tiefen Wunden stammen. Sie spürte deutlich, dass Kostyas Muskeln angespannt waren. Es gefiel ihm nicht, die Oberhand über die Situation abzugeben. Sie wandte den Blick ab und griff nach seinem Umhang, den er achtlos in den Schnee hatte fallen lassen. Mit raschen Bewegungen schnitt sie einen Fetzen heraus und presste ihn auf die Wunde. Kostya zuckte zusammen, war aber klug genug, seinen Arm so ruhig wie möglich zu halten.

Vìn griff mit ihrer freien Linken auf seinen Rücken, um ihm mehr Stabilität zu geben. Sie hielt den Druck auf seine Wunde ständig aufrecht, sodass das Blut bald gerinnen würde. Kostya drehte vorsichtig seinen Kopf und verfolgte mit den Augen die rote Spur, die sich deutlich gegen seine Haut abhob. Dann hob sich sein Blick, und zum ersten Mal sah er zu ihr auf. Obwohl er auf dem flachen Felsen saß, war er nicht viel kleiner als sie. In jeder anderen Situation hätte er sie mühelos überragt. Als sie die Wärme seines Atems auf den Wangen spüren konnte, realisierte sie, wie nah sie sich waren. Es wäre so einfach, ihn jetzt umzubringen... Er verlagerte sein Gewicht kaum merklich, und sie schloss für einen Moment die Augen.

»Wölfchen...« Seine sonst so klare Stimme hatte einen rauen Unterton, den sie nicht einordnen konnte. Es standen noch mehr Worte in seinem Blick, doch er entließ nicht ein einziges aus seinem Käfig.
Sie atmeten beide flach und bewegten sich kaum, als könnten sie sonst eine Lawine auslösen. Vìn suchte nach einem Zeichen des eiskalten Colonels in seiner Miene, wissend, dass das hier falsch sein sollte. Und doch war sie erleichtert, als das Gesicht dicht vor ihr nur den lodernden Blick und das Halblächeln Kostyas zeigte.

Vorsichtig löste sie ihre Hand von seiner Schulter und säbelte einige weitere Stoffstreifen mit ihrem Dolch ab. Sein Umhang würde jetzt kaum noch seine Oberschenkel erreichen. Notdürftig wusch sie die Stoffe in einem Flecken frischen Schnees aus und ging dann dazu über, Kostyas Schulter zu verbinden. Ihre Fingerspitzen streiften dabei immer wieder seine bloße Haut, und die Schauer, die ihn abermals überliefen, konnten nicht ausschließlich von der Kälte kommen.
»Daran könnte ich mich gewöhnen.«
»Träum weiter, das nächste Mal lasse ich dich verrecken.«
Kostya zeigte nur ein sachtes Lächeln, und sie trat mit kritischem Blick von ihm zurück.
»Wenn wir es heute ruhig angehen lassen, solltest du überleben.«
»Der enttäuschte Unterton ehrt mich.«
Diesmal konnte sie ein Grinsen nicht unterdrücken.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now