Kapitel 33

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Vìn hatte sich selbst damit überrascht, wie schnell sie wieder in die vertrauten Muster mit Kostya gefallen war. Der Kampf mit den Kopfgeldjägern war jetzt Monde her, und seit diesem Tag – oder eher, dem darauffolgenden Moment in der Badekammer, den sie gekonnt aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte – hatte Kostya sie ignoriert. Ob sie davon enttäuscht oder erleichtert war, konnte sie selbst nicht sagen. Überraschenderweise hatte sich bereits nach einigen Trainingsstunden das altbekannte Gefühl mit Kostya eingestellt. Was genau das war, konnte sie nicht beschreiben, Vertrautheit schien ihr ein viel zu sanftes, familiäres Wort für das, was zwischen ihnen tobte.

Doch ihr wurde klar, dass Kostya sie auf dem Weg von Zaarlos nach Ocrioll kennengelernt hatte. Nach den ersten Übungen mit Dorn inklusive Spitze führte er sie aus ihrem Trainingsgewölbe hinaus – und auch aus der nächsten Höhle und allen Gängen, die ihr folgten. Kostya brachte sie an die Oberfläche. Weg von allen Sorgen, die ihre Gedanken umhüllten, den bösen Blicken der Späher, die sie seit der Auseinandersetzung mit Varnir verfolgten, und Conners bleichem Gesicht, wenn er die Rebellen über ihn tuscheln hörte. Dafür hin zum Wind, der ihr um die Ohren heulte und Schnee aufwirbelte, zur Weite, die sich vor ihr erstreckte und förmlich dazu einlud, hinauszustürmen, und zur klaren Luft, die ihre Lungen füllte und eine Last nahm, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie mitschleppte.

Als sie im Ausgang einer der Heulenden Höhlen stand, in denen der Wind so gern sein Spiel trieb, fühlte sie sich endlich wieder frei. Nicht zuhause, dafür befand sie sich zu weit im Osten. Doch so nah an Zaarlos dran, wie es überhaupt nur möglich war.
Nach einigen tiefen Atemzügen setzte Vìn einen Fuß in den Schnee hinaus. Sie wandte sich zu Kostya um, der sie hatte vorgehen lassen und ihr ein sanftes Lächeln schenkte. Doch als auch er zu ihr heraustrat, wurden seine Züge schärfer und sein Blick begann zu funkeln. Hier draußen gab es keine Sanftheit, keine Zurückhaltung. Hier regierte die raue Wildnis.

Vìn grinste und stürmte los, dass der Schnee aufstieb. Ihr Monster sprang Seite an Seite mit ihr den Abhang herunter, im Duett mit dem Wind heulend. Plötzlich war ihre Energie wieder unbändig, brauchte ein Ventil, und es reichte nicht aus, durch den Schnee zu laufen. Ocrioll war in dieser Gegend hügelig, doch an einer flachen Stelle zwischen zwei Erhebungen hielt sie inne.
Kostya war ihr langsamer gefolgt und sie erwartete ihn mit bebenden Muskeln. Mit flinken Fingern fügte sie Dorn zusammen, umschloss mit festem Griff das kühle, glatte Holz. Sie war bereit für ihr Training.

Kostya zog noch im Laufen sein Schwert und kam mit ruhigem Schritt auf sie zu, die Spitze seitlich von sich auf den Boden gerichtet. Beinahe wirkte er entspannt, nachlässig, doch sie wusste, dass er auf eine falsche Bewegung lauerte. Nicht heute. Nicht hier. Jetzt war sie ganz und gar richtig, natürlich, und bereit für seine Klinge.
Wie ein Raubtier schlich er näher an sie heran. Sein Grinsen zeigte seine Eckzähne. Doch gerade, als er sein Schwert hob und sie einen Schritt auf ihn zutrat, zerriss ein eindringlicher, ferner Ton die Stille um sie herum. Vìn fuhr mit aufgerissenen Augen zu Kostya herum. Die Farbe schien aus seinem Gesicht zu weichen. »Das ist Varnirs Horn. Die Späher sind in Gefahr.«

Ihr Denken setzte aus. Sie gab sich förmlich ihrem Monster hin, das sie mit schnappenden Kiefern antrieb, vorwärtsdrängte. Der Schnee flog um sie auf, als sie losstürmte, nach Norden, von wo Varnirs Ruf gekommen war. Sie machte sich nichts vor – wenn der Anführer der Nordspäher um Hilfe rief, war etwas gehörig schiefgelaufen.

Kostya schloss sofort zu ihr auf. »Spare deine Kräfte. Wir wissen nicht, was uns erwartet.« Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie ihr Tempo. Wer wusste, ob sie überhaupt etwas erwarten würde, wenn sie sich nicht beeilten. Jetzt war Vìn dankbar für die Unruhe, die die Gefangenschaft in Ocriolls Untergrund ihr brachte. Sie hatte nie zu lang stillhalten können, war immer in Bewegung geblieben, hatte in ihrer Zeit abseits vom Training Patrouillen übernommen oder war mit Kester durch die Gänge gerannt. Der Schnee machte ihren Lauf beschwerlicher, aber sie war ein Bastard der Eisinseln – auf diesem Territorium war sie zuhause. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen, doch ihr Atem ging tief und zuverlässig. Beinahe war es eine Freude, die Kraft ihres Körpers zu spüren, die Meilen, die sie unter ihren Stiefeln verbrannte. Aber ein Schatten der Furcht hatte sich am Rand ihres Bewusstseins eingenistet, brachte sie dazu, die Gedanken um ihre Freunde wirbeln zu lassen.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now