Kapitel 34

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Lertis war tot.
Und keine Wut der Welt, keine Rache, kein Kampf würde ihn zurückbringen.
Das Monster, das vor nichts und niemandem zurückschreckte, legte den Kopf in den Nacken und jaulte. Wind und Ungeheuer sangen gemeinsam ihr Lied für den gefallenen Krieger. Ein letzter Gruß von Ocrioll an seinen treuen Sohn, Lachen in der Stille, Licht in der Dunkelheit.
Vìn hielt den Körper an sich gepresst, als könnte sie damit die Wärme in seinem Inneren halten. Wie ein Kind wiegte sie ihn in ihren Armen, umfing ihn auf eine Weise, wie sie es zu seinen Lebzeiten nie getan hatte. Es war Lertis gewesen, der ständig gegeben hatte. Ohne zu zögern hatte er Umarmungen, Lächeln, aufmunternde Worte geschenkt und nie etwas zurückverlangt. Jetzt würde er niemals bekommen, was ihm zustand.

Er hatte Vìn nie als Bastard gesehen. Für ihn war sie eine Rebellin gewesen, eine von vielen, und sie hatte nie gewusst, was sie davon halten sollte. Trotzdem war seine Anwesenheit immer wie eine frische Brise gewesen, etwas Neues, Belebendes. Auch wenn sie seine Annäherungsversuche mit einem Augenrollen abgewehrt hatte, die Momente mit ihm hatte sie immer genossen.

Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen und richtete die Augen zum Himmel auf. Schwer und grau hingen die Wolken über ihnen, als trauerte auch Ocrioll. »Passt auf ihn auf.« Ihre eigene Stimme schien ihr fremd. Hoch und gebrochen und verzweifelt. »Zeigt ihm, was ein Bastard geben kann.«
Fjodor würde sich über die Bekanntschaft mit Lertis freuen. Er teilte seine Abenteuerlust, das Funkeln in den Augen.
Vìn hatte keine Ahnung, was mit einem Menschen nach dem Tod geschah. Doch sie hatte sich immer vorgestellt, ihre Geschwister würden in den Sternen über Zaarlos weiterleben, unwiederbringlich ein Teil der Wildnis. Lertis war kein Bastard, kein wahres Kind der Eisinseln, aber auch er hatte diesen Platz verdient.

Ihre Beine zitterten, als sie langsam aufstand. Ihr Monster wagte sich vor, neigte den Kopf für einen Moment zu Lertis' Körper herunter, als müsste es überprüfen, dass er wirklich fort war. Dann blickte es sie direkt an.
Sie zog ihren toten Freund wieder in die Arme, aber diesmal wuchtete sie ihn nach oben. Unter der Last stolperte sie, doch mit zusammengebissenen Zähnen fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Und wenn es sie ihre letzte Kraft kosten würde, sie würde Lertis nicht zurücklassen.
Jeder Schritt war schwer. Tränen liefen ihre Wangen hinunter und sie krallte die Finger in seine Lederrüstung. Es hätte nicht so kommen sollen. Wäre sie schneller gewesen... wäre irgendjemand schneller gewesen, hätte ihn nicht allein kämpfen lassen... So sehr Lertis sich auch nach Abenteuern sehnte, er hatte Angst gehabt, als er mit Vìn und Kat auf die Mission gegangen war. Der Schutz der Rebellen und des Untergrunds hatte ihn fast sein gesamtes Leben begleitet. Seinen letzten Kampf hätte er nicht allein in der Weite der Eiswüste ausfechten sollen. Es tat weh, seinen schlaffen Körper auf ihrer Schulter zu spüren, seine leblosen Hände, die bei jedem Schritt über ihren Rücken streiften. Lertis war so voller Leben gewesen... der Tod hatte Vìn stets begleitet, doch in Lertis' Anwesenheit schien er ihr immer in unüberwindbarer Ferne gewesen zu sein. Das hier konnte nicht fair sein, nicht rechtens... Wenn es die Götter wirklich gab, wie konnten sie so etwas zulassen?

Frustriert schrie Vìn ihre Wut nach Ocrioll hinaus. Alle Kontrolle, an die sie sich während der letzten Atemzüge ihres Freundes geklammert hatte, war verschwunden. Ihr Monster duckte sich, zog den Schwanz ein, als wollte es sich vor ihr verstecken. Doch in ihrem Herzen gab es kein Entkommen vor ihr. Warum war es nicht zornig, bereit, die Welt zu zerfetzen? Sie war nicht wehrlos, sie war nicht ergeben – Lertis durfte nicht umsonst gestorben sein!
Verzweifelt versuchte sie, das Ungeheuer anzustacheln, die Wut zu finden, die sonst alles andere vertreiben konnte. Warum füllte sie jetzt nicht diese furchtbare Leere in Vìn?
Sie konnte Lertis nicht länger halten. Beim nächsten Schritt gaben ihre Knie nach und sie sank mit ihrem Freund in den Schnee. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Kehle verstummt. Sie war allein, in völliger Stille.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now