Kapitel 59

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Vìn zuckte zurück. Milos' Hände an ihrer Taille hielten sie fest und pressten sie gegen seinen Körper. Seine Lippen waren weich auf ihren. Aber sie erinnerte sich an einen härteren, kälteren Mund, der nach Tod schmeckte.
Sie stieß ihren Ellbogen gegen Milos' Oberarm und wand sich aus seiner Umarmung hervor.

Seine Hände fielen an seine Seite. Stumm starrte er sie an, den Mund noch geöffnet. Kopfschüttelnd wich sie einen weiteren Schritt zurück.
»Was soll das?«
»Ich...« Er hob die Finger, ließ sie aber sofort wieder sinken. »Liebst du mich denn nicht?«
Sie fauchte. »Natürlich liebe ich dich. Du bist mein Bruder.«
»Nicht im Blut.«
»Aber in allen wesentlichen Dingen!«

Schwer atmend standen sie sich gegenüber. Ihre Brustkörbe hoben sich im selben Rhythmus. In Milos' Augen stand so viel Sehnsucht, so viel Verzweiflung, dass sie sich abwenden musste. Sie konnte ihm nicht geben, was er sich erhoffte. Zwischen ihnen war immer etwas Besonderes gewesen, selbst die übrigen Bastarde hatten nie an ihre Beziehung herangereicht. Vìns Liebe zu ihrem besten Freund war tiefer, als romantische Gefühle jemals sein könnten. Sie hatte immer angenommen, dass er genauso dachte.
Er hatte immer so gedacht wie sie. Sie waren eins gewesen – im Herzen und im Denken. Es war ihre Schuld, dass sich ihre Wege getrennt hatten. Diese Entscheidung hatte sie getroffen, als sie auf ihre Mission aufgebrochen war.
Ihr war klar, dass Milos sie vermisst hatte. Er musste sich in diese Gefühle hineingesteigert haben, und dann hatte er etwas hereininterpretiert, was nicht wirklich da war. Er konnte sie nicht ernsthaft auf diese Weise sehen. Sie waren Geschwister, verdammt nochmal.

Sie versuchte, seinen Blick aufzufangen, doch Milos' Augen huschten ziellos im Unterschlupf herum. Er runzelte die Stirn und räusperte sich.
»Wo sind eigentlich alle?«
Erst jetzt realisierte sie, wie hoch die Sonne bereits stand. Milos' Emotionen würden warten müssen. »Im Haupthaus. Wir müssen uns beeilen, wir brechen bald auf.«
Milos verschränkte die Arme. »Aufbrechen? Wovon redest du?«
Ungeduldig trat sie einen Schritt näher an ihn heran. »Die Schiffe der Rebellen warten an der Ostküste. Wir entkommen endlich aus diesem... Dahinsiechen.« Sie griff nach seiner Hand, doch Milos wich ihr aus. Seine Brust hob sich rasch und in seinen Augen war das Weiße zu sehen.
»Ich kann Zaarlos nicht verlassen.«

Ungläubig starrte sie ihn an. »Darauf haben wir unser ganzes Leben gewartet. Komm jetzt, Milos!«
Er trat zurück, floh vor ihr. Wie im Tanz folgten ihre Füße seinen, bis sich ihre Zehenspitzen berührten. Als er mit dem Rücken gegen die Wand stieß, ballte er die Hände zu Fäusten.
»Das war dein Traum, Vìn. Den Soldaten zu entkommen. Meiner war es, gleichwertig mit ihnen zu sein.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme fester. Er hob das Kinn und sah ihr in die Augen. »Und weißt du was? Das habe ich geschafft. Ich bin etwas wert. Kein Bastard mehr. Ein Soldat.«
Sie schüttelte immer wieder den Kopf. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, aber ihr Körper war wie erstarrt.

»Weißt du, wie sich das anfühlt? Kein Dreck unter ihren Stiefeln zu sein, sondern selbst Stiefel zu tragen?«
Sie wusste es. Sie hatte es im selben Moment erlebt wie er. Aber auf der anderen Seite des Machtgefüges.
»Milos...«
»Nein.« Er stieß sich von der Wand ab und drängte nun sie zurück. »Ich bin nicht mehr nur Milos. General Sírnir hat mir einen Namen gegeben. Ich bin Milos Ellid, Soldat der Sechsten Legion.«
Ungläubig starrte sie ihn an. Kein Wort kam über ihre Lippen. Nicht über Rayna, nicht über Kostya. Kostya... Milos hasste ihn. Mehr als Arik, vielleicht sogar mehr, als Vìn ihn jemals gehasst hatte.
»Du willst dem Colonel nicht begegnen. Das verstehe ich. Wir gehen auf ein anderes Schiff, wir müssen ihn nicht treffen, wir-«
Milos unterbrach sie mit einem harschen Lachen. »Der Colonel ist mir egal. Aber ich kann nicht das wegwerfen, wofür ich mein Leben lang gekämpft habe.«

Wieder schüttelte sie den Kopf. In ihrem Sichtfeld tanzten schwarze Flecken und sie strauchelte. Milos' Gesicht war härter als je zuvor. Aber sie kannte ihn, wusste, dass es eine Maske war. Sie hatte ihn verletzt mit ihrer Zurückweisung. Er hatte seine Gefühle nie zuvor vor ihr versteckt. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu ihrem Milos durchbrechen sollte.
»Ich kann das nicht ohne dich. Ich brauche dich.«
Er sagte nichts, schlug nicht einmal vor, dass sie hierbleiben könnte. So sehr er sich gerade auch verstellte, er kannte ihre Entscheidung. Abrupt schloss sie den Abstand zwischen ihnen und starrte verzweifelt zu ihm hoch.
»Bitte. Milos, bitte.« Sie flehte. »Wir können zusammen sein, aber dafür musst du bei mir bleiben.« Er rückte noch näher an sie heran. Ihr Körper spannte sich an, doch dann schüttelte er den Kopf. Tief atmete sie durch und trat einen Schritt zurück. Ein Funke Erleichterung zuckte durch ihren Körper. Sie hasste sich selbst dafür.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now