Kapitel 42

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Vìn war nicht im Geringsten überrascht, als die Waisen ihr verrieten, dass der Kompass ein magisches Artefakt war. Wie in den Swind-Ringen waren alte Zauber darin gespeichert, ein Überbleibsel aus der Zeit der Magier. Eigentlich gehörte der Kompass Kester, und jetzt verstand Vìn auch, wie der Junge sie in den unmöglichsten Situationen gefunden hatte.
Eine der Nadeln, die silberne, die ihre Richtung ständig veränderte, zeigte dorthin, wo Vìn am dringendsten gebraucht wurde. Die schwarze wies auf den Ort, wo sie am sehnsüchtigsten sein wollte. Diese Nadel hatte Vìn bisher höchstens zittern sehen, ihre Spitze blieb ständig nach Osten ausgerichtet. Nach Zaarlos. Nach Zuhause.

Kester hatte ihr den Kompass hinterlassen, damit sie die Waisen finden konnte, wann immer sie sie brauchten. Doch für Vìn war er vielmehr eine ständige Erinnerung daran, dass ihr Herz in zwei Richtungen schlug. Sie hatte ihn an einer Schlaufe an ihren Gürtel gehängt, neben ihren Dolch, doch sie erwischte sich immer wieder dabei, wie ihr Blick zu den Nadeln glitt. Im Moment lagen sie perfekt übereinander, drängten sie zu ein und demselben Ort. Vìn musste ihre Gedanken dazu zwingen, weiterzuwandern, egal, wohin – nur nicht nach Osten. Als die zweite Nadel an ihren Platz gerutscht war, war sie schon bereit gewesen, Caz um eine Rettungsmannschaft anzuflehen. Lissayoo hatte ihr erklärt, dass das immer passieren würde, wenn nicht gerade etwas Wichtiges anderswo vorging. Bei Kester hatten die Nadeln ständig auf die Waisen gezeigt, wenn er für keinen Auftrag gebraucht wurde. Doch Vìn fiel es trotzdem schwer, in die Hauptadern zurückzukehren, als sei nichts gewesen.
Mit jedem Atemzug, den sie tat, war sie innerlich bei ihren Geschwistern. Aber jetzt so deutlich vor Augen zu sehen, dass ihre Familie sie brauchte, war etwas ganz Anderes. Milos musste inzwischen wieder im Lager angekommen sein. Er würde die Stellung halten, bis Vìn zurückkehrte. Sie musste ihrem Bruder vertrauen. So, wie er sich darauf verlassen konnte, dass sie sich beeilen würde.

Doch vorerst führten ihre Füße sie in den Schlafsaal der Späher, wo nur einige Rebellinnen leise miteinander redeten. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, wechselte Vìn ihre Kleidung und rollte sich auf ihrer Pritsche zusammen. Ihr war nicht danach, ein Gespräch zu führen, nicht einmal mit ihren Freunden. Der Schmerz über Lertis' Tod saß noch tief. Aber auch wenn ihre Kehle sich zuschnürte, wenn sie an den Gefallenen dachte, lag ihre gewählte Einsamkeit nicht an Trauer.
Etwas in ihr hatte sich verändert in der geheimen Grotte. Vìn war wütend auf sich selbst – wenn sie an die Momente mit Lissayoo zurückdachte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Nur Zuschauerin in ihrem eigenen Körper, der wie fremdgesteuert reagiert hatte. Vielleicht hatte sie sich geirrt, als sie angenommen hatte, die Götter würden nicht existieren. Ihre Präsenzen hatten zu ihrem Leben gehört wie die Luft zum Atmen, doch sie hatte nie realisiert, dass Himmel und Erde, Feuer und Wasser das waren, was die Soldaten stets als Götter bezeichnet hatten. Aber dass ihre Mutter und ihr Vater nun andere Namen hatten, bedeutete nicht, dass Vìn vor ihnen auf die Knie fallen würde.
Wenn Thulai wirklich so stolz war, wie Lissayoo angedeutet hatte, würde er das von seiner Tochter nicht verlangen. Sie war unter seinem Himmel aufgewachsen. Unterwürfigkeit lag nicht in ihrer Natur.

Vìns Kopf pochte von den verwirrenden Gedanken und Erkenntnissen. Ihr Körper brauchte Nährstoffe, doch zum Abendessen konnte sie sich nicht aufraffen. Mit geschlossenen Augen blieb sie liegen, darauf lauschend, wie sich nach und nach der Schlafsaal füllte. Einmal kamen Schritte ganz dicht an sie heran und blieben direkt an ihrer Seite stehen. Kat. Vìn hielt ihre Muskeln und ihren Atem so entspannt wie möglich, bis neben ihr Laken raschelten.
»Gute Nacht, Vìn«, hörte sie Kat noch leise murmeln. Vìn wusste, dass die Rebellin diese Routine brauchte. Kat wollte sich nicht allein fühlen, brauchte die Sicherheit einer Freundin. Nach einem Moment des Schweigens hob Vìn vorsichtig den Kopf und spähte über ihre Schulter zu Kats Pritsche. Unter der Decke war nur noch eine Flut dunkler Locken zu sehen. Mit einem unhörbaren Seufzen ließ Vìn sich zurückfallen und schloss die Augen. Wenn sie sich selbst lang genug Ruhe vorspielte, würde sie vielleicht doch noch einschlafen.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now