Kapitel 35

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Milos war ein Schatten in all dem Weiß.
Dunkel, blutverschmiert, und so, so vertraut... Vìn konnte sich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken. Sein Mund war offen, aber es gab keine Worte, die einfangen konnten, was sie fühlten. Sie streckte einen Arm aus, einen Schrei auf den Lippen. Mit seinem Anblick kam sie nicht klar – dem verzweifelten Sehnen nach ihm, der Furcht, ob er nicht doch eine Halluzination war.

Nach zwei Schritten fiel er neben ihr auf die Knie. Und dann lag sie in seinen Armen, fest an seinen Körper gepresst. Er krallte seine Hände in ihre Schulterblätter, lockte einen süßen Schmerz aus ihr hervor. Sie stieß den Atemzug aus, der in ihrer Lunge gestockt hatte, und erwiderte die Umarmung mit ihrer gesamten Kraft.

Ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt und sein Umhang war bereits nass von ihren Tränen. Hemmungslos ließ sie die Emotionen fließen, brauchte sich nicht mehr einzusperren, weil sie sicher war. Wie eine Ertrinkende schnappte sie nach Luft, sog gierig den Geruch nach glühenden Kohlen und Nadelholz ein. Milos fasste seinen Griff auf ihrem Rücken immer wieder nach, als würde sie ihm sonst verlorengehen.

»Nie wieder«, brachte sie heraus, ein Versprechen an sie beide, und ein Flehen. »Nie wieder...« Sie wusste nicht, ob er sie hörte. Er machte keine Anstalten, sich von ihr zu lösen, aber das Heben und Senken seines Brustkorbes wurde ruhiger, tiefer. Dicht an seine Brust gepresst sah und hörte sie nichts – fühlte nur, und das war alles, was sie jetzt brauchte. Milos war hier, er war bei ihr...

Mit einem Ruck zog er sie auf die Beine. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Füße sie wieder trugen, doch das war nicht wichtig, das mussten sie nicht, denn Milos' Arme hielten sie aufrecht. So war es immer gewesen, so würde es immer sein. Für diesen einen Moment, im Schutz dieses Körpers, den sie besser kannte als ihren eigenen, stand die Welt still. Es gab keinen König, keinen Colonel, keine gefallenen Freunde und keine kampfbereiten Soldaten. Nur sie beide, Vìn und Milos, weißes Haar an dunkler Haut und braune Lippen an lehmfarbener Stirn.
»Du lebst...« Die dunkle Sanftheit seiner Stimme strich über ihre Seele. »Du bist bei mir...«
Milos' Wispern war zittrig, rau, so leise, dass sie es kaum ausmachen konnte. Doch sie spürte die Worte tief in ihrem Inneren, wo deren Echo widerhallte.

»Ich habe dich zurück.« Milos nahm einen schaudernden Atemzug. Seine Tränen tropften auf ihren Hinterkopf. Er war ihr Spiegel, ihr Seelenbruder... und doch hatte sie es nie ertragen können, wenn er weinte.
Auch wenn es ihr beinahe körperliche Schmerzen bereitete, löste sie sich von ihm, gerade so weit, dass sie den Kopf heben konnte. Sie hob ihre Finger zu seinen Wangen, strich die Nässe fort, wieder und wieder, bis der Schleier von seinen Augen verschwand. Dann verbanden sich ihre Blicke, wildgrau und dunkelbraun, und sie sah Milos.
»Du bist hier. Du bist bei mir.« Sie sagte es wie ein Mantra, wieder und wieder, bis sie es begriff. »Du bist hier. Du bist bei mir. Du bist hier...«

Er nahm seine Hände von ihrem Rücken, zog behutsam eine nach der anderen zurück, um seine Finger mit ihren zu verflechten. Als er ihre verbundenen Hände hob, konnte sie ihre Augen nicht mehr davon lösen, von ihrer gemeinsamen Schönheit. Mit sanftem Druck führte sie die Finger an seine Brust, verfolgte das Heben und Senken, das sie ruhiger werden ließ. Der Rhythmus von Milos' Atem hatte sie von Kindesbeinen an begleitet, war die Melodie ihres Lebens, ohne die sie nicht vollständig war.
Doch etwas fehlte. Auch wenn seine Hände um ihre alles waren, wonach sie sich in den letzten Monden gesehnt hatte.

Dann realisierte sie, dass sie Milos' Herzschlag nicht spüren konnte. Sein Innerstes war vor ihr verborgen, abgeschottet. Einen einzigen Schritt trat sie zurück, ihre Finger noch fest mit seinen verschlungen, weil sie nach wie vor nicht sicher war, ob sie ohne ihn stehen konnte. Sie musterte ihren Bruder, die puren Emotionen auf seinem Gesicht, die bebenden Muskeln, und zum ersten Mal sah sie das, was darüberlag. Ihr Blick wanderte zu seinen schweren Stiefeln, über die Beinschienen und den ledernen Brustpanzer. Die Platten der Rüstung waren mit Metall verstärkt und über seinem Herzen prangte das Wappen des Sterns über dem Schwert, das eine Schlucht teilte. Das Zeichen des Königs.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt