Kapitel 28

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Vìns Körper vibrierte vor Anspannung.
Noch nie hatte sie auf eine Begegnung mit Varnir derart hingefiebert. Ihr gesamtes Sein schien sich auf den kommenden Augenblick ausgerichtet zu haben. Und ausgerechnet heute ließ der Anführer auf sich warten.
Die Nordspäher hatten sich im hinteren Teil des Trainingsgewölbes versammelt, das durch Felsformationen und Gesteinshaufen den unregelmäßigen Bedingungen der Oberfläche nahekam. So konnten sie üben, das Terrain zu nutzen, jede Erhebung zu einer Waffe zu machen. Einige Schwertkämpfer hatten ihre Einheit unter der Anleitung eines Veteranen bereits begonnen, aber Vìn dachte nicht einmal daran, sich ihnen anzuschließen.
Kat hatte sich auf einem Findling niedergelassen und den Kopf auf eine Hand gestützt. Doch Vìn brauchte ein Ventil für ihre Unruhe, sobald sie innehielt, fing ihr Herz an zu rasen. Winzige Kiesel rasselten über die Steine davon, als ihre Stiefel unablässig den Höhlenboden vermaßen.
Doch dann stoppte sie mitten in der Bewegung, die Füße noch in Schrittstellung. Ihre Hände fuhren nach oben und ihre Augen richteten sich fest auf die Schatten zu ihrer Linken, wo ein dunkler Spalt in der Höhlenwand klaffte.

Kat warf bei der plötzlichen Bewegung einen Blick über die Schulter, und als sie Vìns Haltung sah, sprang sie auf. Sie entspannte sich auch nicht, als sich eine kleine Gestalt aus den Schatten löste und Vìn die Hände wieder sinken ließ.
»Kester«, murmelte Kat ungläubig und trat einen Schritt näher an den Jungen heran. Er drückte sich gegen den Fels, als wollte er damit verschmelzen, und seine blauen Augen suchten Vìns Blick.
»Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen. Wollen wir zusammen... ich weiß nicht...«

Kester tat nichts, um seiner Schwester aus ihrem Gestammel herauszuhelfen. Seine Miene, noch immer Vìn zugewandt, hatte jetzt etwas Anklagendes. Mit einem vorsichtigen Schritt trat sie näher an Kat heran, die dazu übergegangen war, nervös den Saum ihrer Tunika zu kneten. Mit festem Griff umfasste Vìn Kats Schulter und zog sie ein wenig zurück. Kat schien das gar nicht zu bemerken, doch Kester atmete deutlich durch.
»Er wartet in der Nebenkammer auf dich.« Die Stimme des Jungen war klar, aber er hielt seine Worte knapp und blickte nicht nach rechts und links. »Er hat etwas, das dir gehört.«
Für einen Moment vergaß sie, zu atmen. Sie schloss den Abstand zu Kester, der vor ihr nicht davonwich, sondern ihren Blick hielt.

»Er ist gefährlich.« Sein Ton war warnend, dringlich geworden, doch er kam nicht an dem Monster in ihrem Inneren vorbei. Es bewegte sich nicht, lauerte nur angespannt in ihrem Herzen und bemerkte die Warnung nicht einmal.
»Ich bin gefährlicher.«
Kester verzog kurz sein kleines Gesicht, und das schien Kat aus ihrer Starre zu reißen.
»Vìn, das ist mein Bruder, du kannst nicht-«
Ruckartig drehte der Waise sich um. Er zögerte nicht, sondern packte Vìns Handgelenk und zog sie hinter sich her zum Felsspalt. Kat rief ihnen irgendetwas hinterher, doch keiner von ihnen drehte sich um.

Kester verschwand, bevor sie auf zehn Schritte an Varnir herangekommen waren.
Ein Funke Sorge stieg in Vìn auf, doch der Gedanke an das nervöse Verhalten des Jungen verflog sofort, als sie in die Höhlenöffnung trat.
Sie befand sich in einem der letzten beleuchteten Gewölbe vor den verbotenen, naturbelassenen Gängen. Den morschen Holzteilen nach zu urteilen, die am Boden verstreut lagen, musste es einmal eine Seitenkammer für Waffen gewesen sein. Doch die Halterungen für Speere und Bögen waren längst verfallen. Vìns Fokus richtete sich sofort auf die einzige Waffe, die sich noch in der Höhle befand: Varnir stand gegen einen Steintisch an der hinteren Wand gelehnt. Er hatte sein Kinn gesenkt, und seine Augen lagen im Schatten. Doch seine Muskeln spannten sich deutlich an, als sie nähertrat.

»Sieh an, sieh an...« Das schwarze Leder seines Brustpanzers schabte über den Stein, als er sein Gewicht verlagerte. »Ich frage mich, was ein kleines Mädchen hier zu suchen hat?«
»Das weißt du ganz genau.«
»Dass ich dich erwartet habe, heißt nicht, dass mich dein Anblick freut.«
Sie biss die Zähne zusammen und verharrte mit festem Stand in der Mitte der Kammer. Varnir drehte jetzt doch seinen Kopf, und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass seine Augen die Farbe eines nebelverhangenen Waldes hatten. Das passte nicht zum Bild des hitzköpfigen Fenharios.

Die Chroniken von Castrhys: Über die Berge von ZaarlosWhere stories live. Discover now