Irgendwann, in ferner Zukunft

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Inhaltswarnung: Folgen von svv

Die Szene spielt in einer möglichen Realität ein paar Jahre nach LUHS.




Meist geschehen die bizarrsten Momente doch in den alltäglichsten Situationen. 

Zum Beispiel, wenn man der unverschämten Verkäuferin die Meinung an den Kopf knallt, dann herumwirbelt und den Einkaufswagen aus dem Supermarkt schieben möchte. Da entdecke ich auf einmal diesen Typen, der sich über den Infotresen beugt und auf die dunkelhaarige Angestellte einredet. Auch wenn ich ihn nur von hinten sehe, erkenne ich ihn sofort. 

Leonardo. 

"Ich glaub's ja nicht ...", murmele ich und drücke Mika seine Rassel zurück in die Hand, während ich meinen Blick nicht von diesem Kerl lösen kann, der ein paar Meter weiter an der Infotheke steht und die Angestellte zuquatscht. Die braunen Haare fallen ihm wild wie eh und je ins Gesicht und als er seinen Kopf ein wenig zur Seite dreht, entgehen mir auch nicht die beiden Piercings. Leonardo, den ich gefühlt seit Ewigkeiten nicht gesehen habe. Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, schiebe ich schon den Einkaufswagen in einem Affentempo in seine Richtung. Mika kreischt freudig auf. Bevor wir in die Infotheke knallen, bremse ich den Wagen abrupt ab. 

Jetzt hat auch Leonardo uns bemerkt. "Verdammte Scheiße, wolltest du mich umbringen?", lacht er und wendet seinen Blick von der Angestelltenn mit den dunklen Haaren ab. 

"Ich konnte deine Flirtingversuche nicht länger mitansehen", grinse ich, dann lege ich meine Arme um ihn. Als wir uns wieder voneinander lösen, gleitet sein Blick zu Mika. 

"Hey, piccolo mio", grinst er und hält ihm seine Hand zum High Five entgegen. Er schlägt ein. "Ganz schön groß geworden, seit wir uns letztes Mal gesehen haben, was?"

die beiden unterhalten sich, gehen raus. Sophia fragt, was er jetzt vor hat

"Mal gucken ... dachte vielleicht, ich penn' ein paar Tage bei euch und dann zu meiner Schwester oder ..." Er zuckt mit den Schultern und mir fällt auf, dass sein italienischer Akzent stärker ist als sonst. Kein Wunder, angesichts der ganzen Monate, die er dort verbracht hat und wo er wahrscheinlich kein deutsches Wort verloren hat. "Irgendwas find ich immer." 

Noch immer ist Leonardo so ruhelos wie damals, eines der Dinge, die sich wahrscheinlich nie ändern würden. 

"Du kannst auch gern länger bleiben. Wird zwar bisschen eng in der Wohnung, aber hey, du bist zurück, das ist es wert." Ich grinse ihn an, während ich den zerbeulten Kofferraumdeckel mit den vielen politischen Stickern darauf zuknalle. 

"Ich will euch nich' auf'n Sack gehen", meint Leonardo leise, schnippt die Kippe weg und lehnt sich dann mit verschränkten Armen gegen das Auto, während ich Mika auf dem Kindersitz anschnalle. Seine ältere Schwester Yuna ist noch in der Schule. 

"Tust du nicht", erwidere ich bestimmt. "Ich mein, spätestens in zwei Tagen werden wir eh zu streiten anfangen, aber das ist bei uns zwei doch normal." Meine Aussage entlockt ihm ein breites Grinsen. Dann steigen wir ein, Leonardo schmeißt seine Tasche im Fußraum auf den Boden. 

"Ich dachte zwar nicht, dass ich es je sagen werde: aber dann erzähl mal. Was hast du erlebt?" 

Leonardos Lächeln, das er mir daraufhin zuwirft, ist ehrlich. Es ist unglaublich, dass man diesen Kerl allein mit ein bisschen Interesse glücklich machen kann. 

Kaum, dass wir zehn Minuten gefahren sind, zieht Leonardo seine Kippenschachtel aus der Hosentasche hervor und hält sie in die Höhe. "Darf ich?" Er legt seine Füße auf dem Armaturenbrett ab. 

"Musst du deine Unverschämtheit auch

 noch kultivieren?", seufze ich. 

"Hey, so kennst - und liebst du mich doch", erwidert er mit hochgezogener Augenbraue.

"Wie geht's dir?", frage ich ihn irgendwann und sehe ihn an. 

"Gut", winkt er ab. 

"Dir?" 

"Leonardo!" Ich verdrehe die Augen. "Ich hab gefragt, weil ich wirklich wissen will, wie es dir geht, nicht weil ich bescheuerten Smalltalk führen will." 

Er seufzt. "Ich komm klar. Muss ich ja. Ich komm immer klar."

Bevor wir über die Straße in die Wohnung zurückkehren, sehe ich Leonardo ernsthaft an. "Ich bin wirklich froh, dass du wieder da bist." 

"Musst du nicht extra sagen. Weiß doch, dass ich das Leben von all den Menschen herum besser mache." 

Über sein Gesicht huscht ein kurzes Grinsen und ich verdrehe in aller Gewohnheit die Augen. Dass dieser Kerl es auch nie schafft, ein paar Sekunden ernst zu sein. Aber ja, ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, warum er ist, wie er ist. 

"Vincent braucht dich", meine ich leise. 

Jetzt wird Leonardo doch ernst. "Schau mich doch mal an, ich bin nicht die Art Mensch, die andere brauchen. Hab immer noch nicht mal mein eigenes Leben unter Kontrolle." 

"Leonardo, du bist sein bester Freund. Du bedeutest ihm verdammt viel." Wieder sehe ich ihn an und beobachte, wie er auf seiner Unterlippe herumkaut. Eine der Angwohnheiten, die er sich scheinbar nie hat abgewöhnen können. 

"Was ich sagen will, ist, dass es Vinni gerade echt nicht gut geht. Seit Fantas ... Tod ... Es gibt Tage, da spricht er nicht einmal mit mir. Erst neulich hatten wir eine ver‐ dammte Diskussion; weil er nicht zu Yunas Schulfest mitwollte. Hatte Angst, dass unsere Tochter wegen ihm leiden würde. Er macht sich selbst total fertig, das tut mir so unendlich weh ..." Ich seufze und sehe Leonardo wieder an. Mir fällt auf, dass um sein Handgelenk noch immer die beiden Bandanas gebunden sind. Die Narben werden wohl nie verblassen und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob seit damals neue dazugekommen sind. Genauso, wie er wahrscheinlich immer Probleme damit haben wird, seine linke Hand zu nutzen. "Darum ist es mir wichtig, dass du bleibst. Du tust Vincent gut, dessen bin ich mir sicher."


Von Helden und VerlierernWhere stories live. Discover now